Mit Jenny gegen die Angst

Jenny Kuhn: Und wie isch gange?

Röbi Grimm: Nöd guet!

Eine „Doku-Fiktion“ hat das Schweizer Fernsehen gestern zum 100-jährigen Jubiläum des Landesgeneralstreiks ausgestrahlt. Doch so aufwändig und ambitioniert dieser vorgebliche Zwitter auch umgesetzt scheint, die Fiktion beisst die Doku in den Schwanz. Und dies obschon der Film ganz viel zu bieten hätte: Zahlreiche Historikerinnen und Historiker aus unterschiedlichen Landesteilen erzählen die Geschichte des Konfliktes zwischen Schweizer Armee und Sozialdemokratie im Herbst 1918. Sie argumentieren unterstützt durch Bilder und Zeitdokumente, lassen manchmal durchblicken, dass sie sich nur auf Quellen stützen, ja gar nur vermuten können bei ihren Einschätzungen. Ihre Vielfalt und Transparenz sorgen für eine gewisse Glaubwürdigkeit und damit Information.

Diese Glaubwürdigkeit der Doku wird aber von einer Fiktion untergraben. Diese nachgespielte, fiktionale Erzählung, die man als Ergänzung lesen muss, dramatisiert den Konflikt durch eine Gegenüberstellung von Robert Grimm, Anführer der Arbeiterbewegung und Oberstdivisionär Emil Sonderegger. “Die in diesem Film dargestellten Personen haben tatsächlich existiert”, heisst es im Vorspann. “Die Dialoge und Begegnungen stützen sich auf Dokumente, teilweise sind sie nachempfunden.” Doch was wurde teilweise nachempfunden? Alles? Wenig? Und wann hört eine Person auf zu existieren? Wir erfahren es nicht, können nur hinschauen.

Und da sehen wir “Röbi” Grimm als attraktiven Mann mit Herz und Überzeugungen, der seine zukünftige Frau Jenny im Zug mutig anspricht. Während wir Grimm am Esstisch sehen, wo er vor lauter Sorgen keine Suppe mehr essen mag, erscheint Sonderegger – von dessen erstem Treffen mit seiner Partnerin wir nichts erfahren – im Büro am Telefon kaltherzig Befehle erteilen. Während Grimm seine Partnerin hin und wieder um ihre Meinung bittet, meint Sonderegger zu seiner “kleinen, mutigen Nina” bloss: “Mut ist in Zeiten wie diesen nicht genug.” Nina ist sofort überzeugt und greift zum Revolver.

Dass die beiden Frauen kennenlernten, mit ihnen zusammenlebten und Sonderegger den Konflikt suchte, während Grimm sich friedlich für die Interessen der “einfachen Leute” einsetzte, mag den überlieferten Fakten und den dazwischengeschobenen Einschätzungen der HistorikerInnen entsprechen. Doch das grösste Problem des Films ist, dass ihm die Fakten nicht genügen. Mit – so müssen wir annehmen – erfundenen, “nachempfundenen” Dialogen wird Sonderegger als lächerlicher, ängstlicher Scharfmacher dargestellt, der enttäuscht ist, als “die gottverreckte huere Feigling” den Streik abbrechen und “heil dir, Helvetia” in die Kamera haucht. Und mit ihrer primären Verwendung als Charakterisierungsvehikel für die Männer drängt sich die Frage auf: Was sollen Jenny und Nina in diesem Film?

Mit diesen und vielen anderen Überzeichnungen (ja, Grimm wird vor dem Bundeshaus von einem Soldaten beschimpft, ja, die Welschen haben wirklich Vorurteile gegenüber den Zürchern! Haben Jenny und Röbi die Rede am Schluss tatsächlich im Fernsehen verfolgt?) – riskiert der Film die Glaubwürdigkeit, die ihm die HistorikerInnen und Zeitdokumente verleihen. Die Fiktion widerspricht der Doku, ja zieht sie gar in Zweifel, weil sie den Anschein erweckt, als würde sie nicht reichen.

Wozu also die Verwirrung? Wir können wiederum nur hinschauen – und etwas spekulieren. Weil sie so deutlich wiederholen will, was die Fakten zeigen, so eindeutig einen Bedeutungsüberschuss produziert, erscheint sie zuerst als Ausdruck einer Angst, vom Publikum nicht verstanden zu werden. Doch, doch, schaut bloss ins Wohnzimmer dieser warmen und kalten Menschen, hört sie sprechen, seid beruhigt, genau so wars! So erscheint SRF – man wüsste kaum warum – fast so ängstlich angespannt wie im Film Sonderegger, der den eigenen Bedeutungsverlust fürchtet oder Röbi Grimm, der keine Suppe mehr mag. Jenny Kuhn hätte wohl ein Rezept dagegen. Einfach sagen, was Sache ist: “Ich wett wieder mal mit dir goge tanze!”

Bild: Screenshot © SRF

Die gewollte Realität

Seit Mitte Januar weile ich in Boston und verfolge den Start des neuen Schweizer Online-Magazins Republik daher nur aus der Ferne. Die ambitionierte Reportageserie über die USA-Reise der beiden Journalistinnen Anja Conzett und Yvonne Kunz hat mich aber zu zwei Telefongesprächen mit den Autorinnen und einer umfassenden Äusserung zum Text und der Reportage an sich bewogen. Der Artikel „Die gewollte Realität – zum Zustand der Reportage“  erschien am 1. Februar 2018 in der Medienwoche.

Bild ©Medienwoche

Erfolg ohne Netz

Im Februar 2017 recherchierte ich für das Branchenmagazin Schweizer Journalist einen längeren Beitrag über die Schweizer Zeitschriften (ja, es gibt sie!) welche maximal einmal wöchentlich erscheinen und in den ersten zwanzig Jahren der Schweizer Online-Medien keine LeserInnen verloren haben. Ihre Erfolgsformel: Klare Identität und keine Inhalte online verschenken. Ein Höhepunkt meiner Recherchen war ganz klar das Gespräch mit dem ehemaligen Tagi-Chefredaktor und heutigen Watson-Journalisten Philipp Löpfe, der im Jahr 2000 überzeugt war, dass das Internet dem Tagi nichts anhaben konnte. Er sagte: „Besonders die Newsroom-Strategie ist ein gigantischer Irrweg“. Man könne nicht einfach Inhalte top-down in Auftrag geben, in unterschiedliche Kanäle verteilen oder von Kunden aus dem In- und Ausland einkaufen. Der Versuch, damit den Journalismus zu industrialisieren, ergebe einen austauschbaren Brei ohne Identität. „Ein Verlag ist keine Autofabrik, weil eine diskutierende Redaktion mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile.“ Der Artikel wurde im Schweizer Journalist 2+3 (März 2017) gedruckt. Hier ist er in voller Länge zu lesen.


PDF-Version (inkl. Interview mit Gilbert Bühler, Freiburger Nachrichten): Erfolg ohne Netz


Erfolg ohne Netz

20 Jahre nachdem die ersten Schweizer Printmedien Inhalte online publizierten, schreitet der teure Digitalisierungsumbau auf vielen Redaktionen voran. Dabei haben einige der erfolgreichsten Printtitel der letzten Jahre das Internet nicht zuerst als Publikationsmedium verstanden. Und damit einträglich an ihren einzigartigen Marken festgehalten.

Zweieinhalb Jahre nach dem Tages-Anzeiger ging die NZZ online. Im Juni 1997 stand im Blatt, dass „die grosse Internet-Euphorie vieler Verlage bereits abebbt und erkennbar geworden ist, dass sich mit qualitativ hochstehenden Leistungen im Internet kein rasches Geld verdienen lässt.“ Kein rasches Geld: Das stimmt weiterhin. Doch noch heute, 20 Jahre nach Beginn des digitalen Medienzeitalters, stecken Schweizer Medienhäuser Millionen in digitale Projekte, bauen Journalistenstellen ab und schwächen die eigenen Print-Produkte ohne Geschäftsmodelle für digitalen Journalismus gefunden zu haben. Sind diese digitalen Umrüstungen zum jetzigen Zeitpunkt begründet? Wird Print tatsächlich bald sterben?

Nja, es ist kompliziert. Wenn man Leserzahlen und Auflagen der Schweizer Printtitel von 2006 und 2016 (Wemf MACH Basic) vergleicht, fällt auf, dass fast alle Titel verloren haben. Erwartungsgemäss haben national ausgerichtete Tageszeitungen stärker verloren als Regionalzeitungen. Sie befinden sich in stärkerem Konkurrenzkampf mit günstiger oder gar umsonst erhältlichen Angeboten von SRF oder Gratiszeitungen. Viele Regional- und Lokalzeitungen haben ebenfalls eingebüsst und auch gedruckte Zeitschriften haben verloren. Doch bei genauerem Blick lässt sich nicht einzig die Online-Konkurrenz auf dem Leser- und Werbemarkt dafür verantwortlich machen. Beispielsweise weil die Printausgabe von 20 Minuten in den letzten zehn Jahren zugelegt hat. Oder weil noch heute bis auf den Blick alle Zeitungen mehr Print- als Onlineleser verzeichnen. Oder weil die Verluste je nach Medientitel unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Oder eben auch, weil es Titel wie die Freiburger Nachrichten (siehe Interview mit Direktor Gilbert Bühler), die Schweizer Familie oder die WOZ gibt, welche in den vergangenen zehn Jahren entweder bloss marginal verloren oder gar zugelegt haben. Print scheint also immer noch sehr langsam und nur unter Umständen zu sterben.

Diese Widerstandsfähigkeit gedruckter Zeitungen hat Iris Chyi, Professorin für Neue Medien an der University of Austin untersucht. Sie hat unter anderem die Leserdaten der 51 grössten US-Zeitungen analysiert und festgestellt: Die angeblich sterbenden Print-Ausgaben sind ihren angeblich hoffnungsvollen digitalen Gegenstücken noch immer in fast jeder Hinsicht überlegen. Sei es in Bezug auf Leserschaft, Engagement, Werbeeinnahmen oder die Bereitschaft, für das Produkt zu zahlen. Ihre Forschung zeigt auch, dass unter den 18 bis 24-jährigen US-Lesern doppelt so viele die Printausgabe eines bestimmten Titels dem digitalen Angebot vorzogen. Sie findet daher, dass Verleger besser daran täten, in die (immer noch) profitablen Zeitungen und damit ihren unverwechselbaren Inhalt zu investieren, als in teure Digitalisierungsprojekte, welche gleichzeitig die redaktionelle Leistung und damit Inhalt und Identität schwächen.

Es ist unmöglich zu sagen, wie sich die gebeutelten Schweizer Printtitel entwickelt hätten, hätten sie Chyis mit US-Daten begründeten Rat befolgt. Eine Umfrage bei drei der erfolgreichsten Printmarken der letzten zehn Jahre zeigt jedoch: Sie haben ziemlich genau dies getan.

„Wir haben im Verhältnis zu anderen sehr wenig in unseren Webauftritt investiert“, sagt beispielsweise Daniel Dunkel, Chefredaktor der Schweizer Familie. Die Website der Zeitschrift dient in erster Linie als Marketing-Instrument, welches das eigentliche Produkt bewirbt und den Kontakt zur Leserschaft online pflegt. Dunkel und sein Team konnte bis anhin keinen zwingenden Grund ausmachen, die Schweizer Familie für Bildschirme aufzubereiten. Die Leserschaft, über 90% Abo-Kunden, sei sehr print-orientiert. Zwar verfügt die Zeitschrift über ein E-Paper-Angebot. „Das ist aber nicht sehr gefragt. Die Leute haben nicht darauf gewartet“, so Dunkel. Er sieht den Grund des anhaltenden Erfolgs der Schweizer Familie, welche in den letzten Jahren nur marginal an Leserschaft verloren hat (Zahlen in Kasten), in ihrem Charakter als gedruckte Zeitschrift begründet. „Je mehr die Digitalisierung fortschreitet, desto exklusiver wird Print“. Die breite Bevölkerung schätze das Lesen auf Papier, das gedruckte Bild, die sorgfältig gestaltete Grafik eben nach wie vor. „Man kann Inhalte ausschneiden oder das Heft weitergeben.“ Bei der Schweizer Familie ist man dennoch gerade daran, den Webauftritt zu erneuern. „Aufgrund der Performance der Zeitschrift wäre das nicht nötig“, so Dunkel. Er spürt keinen Druck der Leserschaft und wird daher auch nicht einfach den Print-Inhalt online spiegeln, sondern vielmehr eine Service-Plattform mit Rezepten und Ausflugstipps aufbauen, welche einen Zusatznutzen für Abonnenten bieten und eine neue, digital affine Leserschaft anziehen soll.

Ähnlich selbstbewusst ist die WOZ aufgetreten. Die linke Wochenzeitschrift hat in den vergangenen zehn Jahren sowohl Reichweite, wie auch Auflage gesteigert. „Unsere Website ist – ganz altmodisch – die Visitenkarte der WOZ im Internet“, sagt Camille Roseau, im Verlag für digitale Weiterentwicklung zuständig. Zwar hat man in den letzten fünf Jahren viel in die strukturelle Erneuerung des Webauftritts investiert. Doch die Investitionen beschränkten sich darauf, das Design zu modernisieren, die Website für mobile Endgeräte zu optimieren und eine App zu entwickeln. „Redaktionell investieren wir aber nur sehr wenig in die digitale Ausgabe. Wir publizieren auf allen Kanälen praktisch die gleichen Inhalte, welche aus Text und Bild bestehen“, so Roseau. Diese Inhalte sind bis auf wenige Ausnahmen, von welcher sich die Redaktion Erfolge in den sozialen Medien verspricht, nur für zahlende Leserinnen und Leser zugänglich. Auch das Abo gibt es nicht günstiger in Digitalvariante. Roseau begründet: „Für uns ist die WOZ ein journalistisches Projekt, das dank seiner Leserschaft Bestand hat. Daher richtet sich der Beitrag, den eine Abonnentin oder ein Abonnent bezahlt, nicht nach dem Kanal, über den die WOZ gelesen wird“. Ausschlaggebend sei vielmehr, wie viel Leserinnen und Leser zu bezahlen im Stand seien.

Dass Zeitschriften, welche nicht täglich erscheinen, besser mit dem Wandel umgehen können, ist nicht besonders erstaunlich. Daher fällt besonders der Erfolg der Freiburger Nachrichten ins Auge. Der Titel hat in den vergangenen zehn Jahren als einzige Schweizer Tageszeitung abgesehen von 20 Minuten nicht an Leserschaft und kaum an Auflage verlorenen. Direktor Gilbert Bühler (siehe Interview im PDF unten) begründet diesen Erfolg mit konsequentem Fokus auf die Region und die damit verbundene Einzigartigkeit der Zeitungsinhalte, welche man online keinesfalls gratis anbietet. Wer digital lesen will, kann das. Er muss aber zwingend bezahlen. „Bei einer Redaktion unserer Grösse kann man nicht sparen ohne das publizistische Angebot zu schmälern“, sagt Bühler, der neben der Freiburger Nachrichten noch zwei weitere Lokalzeitungen herausgibt. Man müsse in diesem Geschäft ganz nahe an der Leserschaft sein und diese spüren. „Murtner sind keine Sensler. Die ersten sind historisch reformiert und freisinnig, die anderen ursprünglich katholisch-konservativ. Unsere drei Zeitungen sind seit langer Zeit politisch und konfessionell neutral“. Bühler sieht seine Lokalzeitung zwar in einem schwächeren Konkurrenzkampf als andere Schweizer Tageszeitungen. In dieser Situation eines Quasi-Print-Monopols sehen sich aber viele Zeitungen mit regionalem Fokus, die in den letzten zehn Jahren stärker verloren haben als die Freiburger Nachrichten.

Ein Grund, der überall von den Verlegern für die Verluste angeführt wird, ist der angespannte Werbemarkt. Tatsache ist, dass die Werbeumsätze in den letzten fünf Jahren um 28% eingebrochen sind. Die Umsätze der Printmedien sind aber weiterhin auf einem hohen Niveau, nämlich fast doppelt so hoch wie zum Beispiel TV-Werbung. „Klar hat Print massiv an Rubrikenanzeigen verloren, aber ein Teil davon wird immer bleiben“, sagt Urs Schneider, Gründer und Verwaltungsrat der mediaschneider Gruppe. „Es gibt zum Beispiel einen Rubrikenmarkt für Leute, die sich ständig vorstellen könnten, die Wohnung oder den Job zu wechseln, aber dafür nicht bewusst auf der entsprechenden Plattform suchen.“ Die Rubriken, welche ins Internet abgewandert sind, würden den grössten Teil des Kuchens ausmachen. Auch die kommerzielle Werbung in den Printmedien hat abgenommen. Wie viel davon ins Internet abgewandert ist kann man aber nicht genau feststellen. „Google macht zum Beispiel keine Angaben über seine Werbeumsätze“, so Schneider, der an Print glaubt. „Grundsätzlich geht die Werbung da hin, wo die Aufmerksamkeit ist. Das ist ein Gesetz wie das Amen in der Kirche“. Für Schneider punktet Print durch die hohe Akzeptanz der Werbung bei der Leserschaft. „Man kann digital mittlerweile sehr viel machen. Search, response, verlinken, Videos, aber eben nicht alles.“ Während er bei den Verlagen immer noch ein „Silodenken“ feststellt, welches die kreative Umsetzung konvergenter Kampagnen erschwert, beobachtet er bei vielen Werbekunden Zahlengetriebenheit. „Man will für die grossen Summen, die man einsetzt eine gewisse Wirkungsgarantie. Ein Grossteil der kommerziellen Werbung ist auf Preisaktionen fokussiert, um den Abverkauf kurzfristig zu steigern.“ Für derartige Low Interest-Produkte gehe das nun mal einfacher mit digitalen und audiovisuellen Medien, welche quasi aufgedrängt werden. Für qualitativ hochwertige Kommunikation hingegen sieht er Print viel besser geeignet. „Mit Print kann man Marken schaffen“.

Philipp Löpfe wusste um diese Vorzüge der Zeitung, als der damalige Chefredaktor des Tages-Anzeigers im Dezember 2000 vor die Tamedia-Kaderleute trat. Er versicherte ihnen, dass das Internet dem „Tagi“ nichts anhaben konnte. Aus seiner Sicht hatte die Zeitung eine klare Identität als Gemeinschaftsprodukt. Damit sei sie ideal gegen den Individualisierungstrend im Internets gerüstet. In der Rede, die auch im Blatt abgedruckt wurde, sagte er: „Die professionelle Gatekeeper-Funktion der Redaktion kann nicht individualisiert werden, sie ist per definitionem auf die Masse, auf die Gemeinschaft ausgerichtet.“ Daher stärke der Online-Auftritt des Tages-Anzeigers die gedruckte Zeitung, indem dieser Individualisierung biete. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Marke als Gemeinschaftsprodukt nicht verwässert würde. Löpfe war überzeugt: „Nur wer ein Premium-Produkt anbietet, kann auch einen Premium-Preis dafür verlangen.“ Löpfe, heute als Wirtschaftsjournalist bei watson tätig, hat seine Ansichten nicht geändert: Ein journalistisches Medium zeichnet sich für ihn zuerst als emotionales Gemeinschaftsprodukt einer Redaktion mit klarer Identität aus. „Besonders die Newsroom-Strategie ist ein gigantischer Irrweg“. Man könne nicht einfach Inhalte top-down in Auftrag geben, in unterschiedliche Kanäle verteilen oder von Kunden aus dem In- und Ausland einkaufen. Der Versuch, damit den Journalismus zu industrialisieren, ergebe einen austauschbaren Brei ohne Identität. „Ein Verlag ist keine Autofabrik, weil eine diskutierende Redaktion mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile.“ Mit einer klassischen Redaktionsstruktur flösse einerseits mehr in jede Geschichte, es passierten weniger Fehler. Andererseits würde man aber auch andere Journalisten anziehen. Für Löpfe geht das auch bei einem Online-Medium wie watson, wo man täglich an der 8.30 Uhr-Sitzung über die eigene Identität diskutiere. Im Vergleich zu Newsnet-Newsroom-Zeiten fühle er sich stärker verantwortlich fürs Produkt. Sein Fazit: „Nur eine diskutierende Redaktion könnte eine neue Zeitung denken. Viele Medienmarken sind aber gerade daran, das Kind mit dem Bade auszuschütten.“

Andreas Häuptli, Geschäftsführer des Verbands Schweizer Medien ist ähnlich kritisch, obschon er die Newsroom-Strategie nur als risikoreich betrachtet, sollte sie in der Umsetzung zu einer Verluderung in den Abläufen im Zuge des digitalen Temporauschs führen. Vielmehr stellt er fest, dass in vielen Verlagshäusern im „Experimentiermodus“ vergessen geht, was man an der gedruckten Zeitung hat. Er gibt zu, dass man in den vergangenen Jahren zu wenig gemacht hat, um Werbekunden die vergleichsweise hohe Wirkung und Kontaktqualität von Printwerbung zu kommunizieren. Er bezeichnet durchlässige Paywalls als „Zwitterlösungen“, weil damit immer noch online Inhalte verschenkt werden, die in Print kosten. Und er sagt: „Indem man bei Print die Preise erhöht, gleichzeitig aber online Inhalte verschenkt, geht man zwei Risiken ein: Erstens, dass man die Loyalität der Stammleser gefährdet. Und zweitens, dass man die Hürden für potenzielle Neuabonnenten sehr hoch ansetzt, gerade bei jungen Lesern.“

Ob und wie schnell Print stirbt, scheint vorläufig also noch immer zu grossen Teilen in den Händen vieler Verlage. Zwar befinden sich viele Printmarken in erheblichen Identitätskrisen, weil sie sich vom Internet in einen neuartigen Spagat zwischen zwei Geschäftsmodellen mit digitalem (welch traumhafte Reichweite!) und gedrucktem Journalismus (welch treue Leserschaft!) locken lassen. Doch für Printtitel, die im von Glaubwürdigkeit geprägten Mediengeschäft der digitalen Verlockung vorsichtig begegnen, zahlt sich die Beharrlichkeit noch immer aus. Wer sich nicht in einen schmerzhaften Spagat begibt, muss auch nicht das fast Unmögliche leisten: Einen solchen glaubhaft als aufrechten Stand zu verkaufen.

Widerstand und Wachstum

Ich darf regelmässig fürs forum, das Magazin der katholischen Kirche des Kantons Zürich schreiben und wurde angefragt, ein Portrait eines Sportlers zu machen. Selbstverständlich sollte dabei aber nicht die ausgeübte Sportart im Zentrum stehen. Chefredaktor Thomas Binotto wollte vielmehr folgende Fragen beantwortet haben: „Was bedeuten Werte für einen Sportler? Dient Sport der Charakterschulung? Solidarität, Rücksicht, Sorgfalt im Sport? Askese, Rituale, Sinnfindung im Sport?“ Ein Arbeitskollege machte mich dann auf Morris Trachsler aufmerksam, der Center der Kloten Flyers, welcher sich – damals noch beim ZSC – als einziger Schweizer Spitzensportler gegen die Durchsetzungsinitiative der SVP geäussert hatte. Ich erinnerte mich, dass Trachsler (er ist auch im Zürcher Oberland aufgewachsen) und ich zusammen den Nothelferkurs absolviert hatten und traf ihn zu einem längeren Gespräch im Schluefweg-Restaurant. Das Portrait erschien in forum Nr. 22/2017 (22. Oktober 2017), hier in voller Länge digital.


Widerstand und Wachstum

Körperliche Leistungsgrenzen, der Umgang mit Druck, das Funktionieren von Teams: Eishockeyprofi Morris Trachsler will jeden Tag vom Sport fürs Leben lernen.

Er hatte kurz daran gedacht, ganz aufzuhören. Nach zwei enttäuschenden Viertelfinal-Verlusten mit den ZSC Lions hatte er vom Stadtzürcher Topclub mit jährlichen Titelambitionen keinen neuen Vertrag erhalten. Mit 32 Jahren spürte er auch, dass er seinen Körper nicht nur härter trainieren, sondern auch sorgfältiger regenerieren musste. Zudem hatte er einen Masterabschluss in der Tasche und arbeitete bereits neben dem Eis. Verschiedene NLA-Klubs hatten Interesse am Defensivcenter mit über 100 Länderspielen gezeigt. Doch Trachsler entschied sich fürs Abenteuer beim Vorstadtclub Kloten, der eben dem Konkurs entgangen war. Dessen Präsident machte kein Geheimnis daraus, wie der den Verein gesunden wollte: Indem er die Spielergehälter massiv senken würde.

„Ich bin privilegiert“, sagt Trachsler, während er im Klotener Schluefweg-Restaurant aufs vergünstigte Mittagsmenü wartet. Doch damit spricht er nicht zuerst auf seinen Lohn, sondern die aufrichtige Intensität seines Berufs an. „Man verfolgt ein gemeinsames Ziel, muss zusammenarbeiten und erhält sehr schnell ehrliche Antworten.“ Im Fall seines neuen Teams waren diese Antworten bisher hart: Kloten startete mit sechs Niederlagen in die Saison. Doch für Trachsler kann dieser schlechte Start auch eine Chance sein. Eine Chance für sein Team, an diesen Rückschlägen zu wachsen. So wie er als Spieler gewachsen ist.

Im Eishockey hat er nicht nur gelernt, andere Menschen besser zu verstehen: Wie sie mit Widerständen umgehen, wie sie in Gruppen funktionieren. Er hat auch ganz besonders sich selbst kennengelernt. „Ich werde unter Druck manchmal wütend und ungeduldig, doch ich habe immer besser gelernt, meine Energie in Dinge zu stecken, die ich kontrollieren kann“. Wie in seinen Körper, den er über die Jahre so gut kennengelernt hat, wie seine Gedanken. Er hat gelernt, dass er diese Dinge nicht trennen kann. Wenn er vor einem Spiel fühlt, dass seine Beide müde sind, nimmt er sich vor, auf dem Eis weniger Risiko einzugehen. Wenn er sich stark fühlt, versucht er ein bisschen mehr. Doch auch bei der Spielvorbereitung gibt es keine Erfolgsformel: „In jedem Spiel kann alles passieren.“

Morris Trachsler, so scheint es, hat als Spitzensportler nicht zuerst gelernt, Hindernisse zu überwinden, einfach besser zu sein als andere. Eher hat er gelernt, den Widerstand zu schätzen weil er ohnehin nie verschwindet. Er sagt: „Als Profi-Sportler muss ich jeden Tag lernen wollen, die Konkurrenz sowohl im Team als auch beim Gegner bleibt nie stehen.“ Dabei hat er erfahren, dass doch gerade die Lust daran, das Schwierige aufzusuchen, ihm hilft besser zu sein. „Im Vergleich zu meinen Studienkollegen hatte ich kaum Probleme mit Prüfungssituationen“, sagt der Volkswirt, der in Genf studierte und mit 21 bloss mit „Maturfranzösisch“ angereist war.

Doch wie das Studium wird auch Trachslers Privileg als gut bezahlter Sportler täglich lernen zu können, irgendwann enden. Der neue Vertrag in Kloten läuft über zwei Saisons. Vielleicht ist es sein letzter als Profi. Dank seiner Teilzeitanstellung bei einem Beratungsunternehmen für Pensionskassen ist er mit der Arbeitswelt und ihren langsameren Zyklen bereits vertraut. Und doch zeigt er Respekt davor. Freunde erzählen ihm, dass Sportteams nicht mit Unternehmen vergleichbar seien, dass jeder eine ganz eigene Motivation mitbringe und nicht der gemeinsame Erfolg das oberste Ziel sei. Deshalb will er seine Zeit als Hockeyprofi auskosten und nicht nur die täglichen Spässe in der Garderobe geniessen. Sondern auch das bewusste Aufbauen der Anspannung am Spieltag, wenn sich das Team zum gemeinsamen Essen trifft und dem Widerstand Schritt für Schritt gemeinsam entgegentritt. Dieses Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, wird er nach seiner Karriere woanders suchen müssen.

Dabei wird ihm bestimmt helfen, dass er das Schwierige zu schätzen gelernt hat. Vielleicht wird ihm auch helfen, dass er gerne liest. Nicht zuerst, weil er dabei wertvolle Ratschläge kriegen könnte. Sondern weil er seinen Durchhaltewillen trainiert, indem er sich weigert, angefangene Bücher wegzulegen. Mit Hemingway’s „Wem die Stunde schägt“, habe er besonders gekämpft. „Aber am Schluss war ich froh, dass ich das Buch nicht weggelegt hatte.“

Bild © Christoph Wider (forum)

Fakten über Fakten: So kamen sie in den Schweizer Journalismus

Mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wurde in den Schweizer Medien ein Klagelied angestimmt: Die Fakten zählen nichts mehr, wie traurig! Etwas irritiert versuchte ich die Geschichte der Fakten im Schweizer Journalismus zu recherchieren. Ich musste in den USA beginnen, im Archiv Bibliothek des Instituts für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Uni Zürich graben, sowie u. a. mit dem Medienjuristen Peter Studer, dem Wissenschaftshistoriker Philipp Sarasin, dem VSM-Geschäftsführer Andreas Häuptli und der Presserat-Geschäftsführerin Ursina Wey sprechen. Die Geschichte erschien im Schweizer Journalist 4/5 2017 und ist hier in voller Länge zu lesen.


Lesefreundliches PDF mit Fussnoten: FaktenüberFakten_SJ


Fakten über Fakten: So kamen sie in den Schweizer Journalismus

Für sie werden Kommentare getippt und Anzeigen geschaltet: In Zeiten von Filterblasen und systematischer Desinformation haben Fakten Konjunktur. Doch ihr Verhältnis zum Journalismus ist alles andere als selbstverständlich. Ein wahres Beziehungsdrama in zwölf Fakten.

Fakt Nummer 1: Fakten sind gerade populär

Plötzlich wurden die Verleger deutlich. „Glaubwürdigkeit steht bei uns an erster Stelle – ohne Alternativen. Damit Sie Lügen von Fakten unterscheiden können.“[1] Nicht weniger als Fakten versprachen die Anzeigen, welche der Verband Schweizer Medien in den letzten Wochen in Schweizer Tageszeitungen schaltete. Verbandspräsident Pietro Supino hatte an der Dreikönigstagung „die grösste inhaltliche Chance für den Journalismus und unsere Medienhäuser“ in einer Besinnung auf die Fakten gesehen und in das „besorgniserregende“ und gleichwohl „treffende“, postfaktische Lamento eingestimmt. Es gebe nur noch „eine gefühlte Wahrheit, die weniger auf Fakten als auf Ansichten und Wünschen beruht“.[2] Damit hatte er an Analysen Schweizer Journalistinnen und Journalisten zur US-amerikanischen Präsidentschaftswahl angeknüpft, welche über Klagen[3], Verwunderung[4] oder Moralismus-Kritik[5] Branchen-Reflexion betrieben hatten. Als Mitte März die ersten Inserate mit Matthias Aebischer oder Natalie Rickli Seiten füllten, schien die Schweizer Waffe gegen das postfaktische Gespenst klar: Fakten. Damit wollte man sich von Propaganda und Wahrnehmungsblasen abgrenzen.

Fakt Nr. 2: Fakten sind kompliziert

So weit so gut – aber auch so pauschal. Denn die Sache scheint komplizierter.[6] Kurz vor Weihnachten kritisierte WOZ-Redaktor Kaspar Surber den seit den US-Wahlen grassierenden Factchecking-Aktionismus. Ihm liege ein für die Branche typischer „unterbeleuchteter Realitätsbegriff“ zugrunde. Man glaube: „Die Fakten gibt es per se, sie müssen bloss noch überprüft werden.“[7] Unterbeleuchtung? Klagelieder? Verwunderung? Grundlegende Fragen stellen sich so dringlich wie lange nicht mehr: Was sind Fakten im Journalismus, woher kommen sie und wie werden sie gemacht?

Fakt Nr. 3: Die Fakten wurden mit dem Anzeigengeschäft geboren…

Zeitungen waren hundert Jahre alt, klein und kurz, als der 23-jährige Drucker New Yorker Drucker Benjamin Day 1833 eine Idee hatte. Mit einem Preis von sechs Pennys vergleichsweise teuer und zumeist nur im Jahresabo erhältlich, richteten sie sich an Kaufleute und Politiker. Entsprechend bescheiden war ihre Auflage von bloss 2000 bis 3000 Stück. Sie waren typischerweise nur vier Seiten lang und wurden von Politikern und Druckern herausgegeben. Die Schreiber waren nicht mehr als abhängige Sekretäre, Fakten interessierten sie weder in den Anzeigen noch den politischen Streitschriften, mit welchen sie ihre Kontrahenten angriffen. Doch die meisten Menschen lasen ohnehin keine Zeitungen.[8] Day wollte das ändern, indem er seine New York Sun zum Einzelpreis von einem Penny verkaufte. Sie sollte „all the news of the day“ und Werbung für die Masse verkaufen. Die Idee schlug ein: Zwei Jahre später betrug die Auflage der Sun 19’360 Stück. Die kleine, teure Partei- oder Anzeigenpresse, die sich an Wirtschafts- und Politikelite richtete, war bereits 60 Jahre darauf überholt. Auf die Masse ausgerichtet, sollten die Geschichten, welche diese neue „Penny Press“ erzählte, Leserinnen und Leser aller Schichten, Glaubensrichtungen und politischer Lager ansprechen. Demokratie und freie Marktwirtschaft gehörten zusammen wie nie zuvor. Deshalb brauchten die Zeitungsmacher Fakten. „Die Welt hat genug von Priestern und Predigten; heute fragt sie nach Fakten“, schrieb der US-Autor Clarence Darrow in einem Essay 1893[9]. Doch Fakten waren damals ganz allgemein: einfache Tatsachen. Die Sekretäre mussten bloss rausgehen, sie einsammeln und präsentieren. Diese Präsentation hatte zwar eine Moral. Doch auch die war einfach: Sie ergab sich selbstverständlich aus den wo und wie auch immer gesammelten Fakten.[10]

Fakt Nr. 4: … und brauchten Zuversicht.

Diese Vorstellungen lagen in einem neuen Selbstbewusstsein begründet, welches um 1900 den Weg aus wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen in den Journalismus gefunden hatte. Gut 100 Jahre nach Immanuel Kants aufklärerischer Forderung „Sapere aude!“ und 60 Jahre nach Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung war der Mensch ein anderer, stärkerer. Er war nicht mehr passiv, beeinflussbar und von seiner Umgebung geformt. Es war ihm nun möglich, ein willensstarkes, durchsetzungsfähiges, aktives „Genie der Beobachtung“ zu sein, indem er seine Schwächen anerkannte. Zudem hatten die Französische Revolution und die Umwälzungen von 1848 neue politische Handlungsformen möglich und wünschbar gemacht. Mit den Zeitungen war auch der Mensch mächtiger geworden.[11]

Fakt Nr. 5: Fakten verloren ihre Unschuld im Ersten Weltkrieg.

Doch die Zuversicht, dass ein Journalist – ein Mensch überhaupt – mit blosser Willenskraft die Fakten finden und abbilden konnte, wurde bald wieder zerzaust. Das hatte nicht nur mit Sigmund Freuds Thesen zum Unbewussten zu tun, sondern besonders mit dem Ersten Weltkrieg: Nach Lord Herbert Kitcheners britischem Vorbild[12] baute auch US-Präsident Wilson einen Propagandaapparat aus „Presseagenten“ auf, der die Meinung der Amerikanerinnen und Amerikaner gezielt beeinflussen sollte und nicht nur 6’000 Pressemitteilungen versandte, sondern auch 75’000 „Vierminutenmänner“ einstellte, die in Kinos und auf öffentlichen Plätzen kurze Reden hielten.[13] Die Arbeit dieser „Presseagenten“ weitete sich nach dem Krieg schnell auf andere Geschäfte aus und ernüchterte die Zeitungsmacher. Der Journalist Walter Lippmann warnte daher, dass die Krise der westlichen Demokratie eigentlich eine Krise des Journalismus war. „Wo die Neuigkeiten aus zweiter Hand kommen, wo die Zeugenschaft ungewiss ist, wird… der ganze Bezugsrahmen der Gedanken zu dem, was jemand behauptet. Nicht was wirklich ist.“[14]

Fakt Nr. 6: Fakten sind begründete Aussagen

Lippmann, der selbst für die US-Regierung gearbeitet hatte, verstand, dass nun zwei Fragen beantwortet werden mussten: Wie würden Journalisten ihre Arbeit wieder ernst nehmen können? Und wie würden sie dabei auch von ihrer Leserschaft ernst genommen? Seine Antworten fand er in der Wissenschaft: „In einer Welt, die so vielfältig ist wie die unsrige gibt es nur eine mögliche Art der Einheit. Statt der des Ziels ist es die Einheit der Methode; die Einheit des disziplinierten Experiments.“[15] Lippmann war nicht der erste, der sich eine klarere Quellenangabe in Artikeln oder eine einheitliche Ausbildung starkmachte. Aber er fand, dass die Journalisten nicht vor den Interessen der kapitalistischen Verleger, sondern vor sich selbst geschützt werden mussten. Er war auch nicht so naiv zu glauben, dass eine objektive, uninteressierte Berichterstattung möglich war. Aber gerade wegen dieser unvermeidbaren Subjektivität der Journalisten forderte er eine Objektivität der Arbeit: Trennung von Bericht und Kommentar oder transparente Quellenangaben. [16]

Fakt Nr. 7: Fakten haben eigene Wahrheiten

Zwanzig Jahre später, mitten im Zweiten Weltkrieg beauftragte der Time-Verleger Henry Luce eine Gruppe Intellektueller, einen Bericht über den Zustand der US-Presse zu verfassen. 1947 folgte ihr Fazit: Die Pressekonzentration sei zu hoch, einige Verlage viel zu mächtig. Obschon ihre Bedeutung für die Gesellschaft hoch sei, sei ihr Dienst an dieser ungenügend. Lügen würden sich zu schnell verbreiten lassen. „Es ist nicht mehr genug, den Fakt wahrheitsgemäss zu berichten. Es ist nun notwendig, die Wahrheit über den Fakt zu berichten.“[17] Die Autoren um den Erziehungsphilosophen Robert Hutchins ahnten die Pressefreiheit gerade durch die schlechte Arbeit der Presse selbst bedroht. Nicht fremde Mächte, sondern sie selbst setzte die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel.[18] Sie erkannten: Wenn Fakten mehr als blosse Aussagen über die Welt sein sollten, brauchten Medien eine Waffe, um sich von Lügen und Behauptungen abzugrenzen. Diese Waffe mussten sie konsequenterweise gegen sich selbst richten – Selbstregulierung. Darunter verstanden die Autoren aber nicht nur ein Qualitätslabel, sondern auch Freiheitslegitimation. Sie glaubten: Wenn die Medien sich nicht selbst regulierten, würden sie früher oder später von der Gesellschaft – der Politik – reguliert werden.[19]

Fakt Nr. 8: Die Schweizer kümmerten sie erst als fremde Richter drohten

Diese Ahnung war nicht unbegründet. Wenn der freie Markt es nicht schaffte, die Fakten zu sichern, würde sich eben die Politik darum kümmern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erliess eine Subkommission der UNO einen Entwurf für einen internationalen journalistischen Ehrenkodex. Dieser „Versuch, Begriffe wie zum Beispiel der objektiven Wahrheit gültig umschreiben zu wollen“, wie ihn Dr. Richner, Zentralpräsident des Vereins der Schweizer Presse an der GV von 1949[20] nannte, kam in der Schweiz nicht gut an. Pressefreiheit sei Faktenfreiheit, sagte er. Der Druck der Vereinten Nationen und zunehmende PR-Tätigkeiten der Wirtschaft führte zu Beginn der Fünfzigerjahre dennoch zum Einsatz einer Sonderkommission, die aber vorerst keinen Kompromiss fand. Anders als in den USA war die Schweizer Presselandschaft zu diesem Zeitpunkt immer noch stark von der kleinen Gesinnungspresse mit klarer aber transparenter politischer Positionierung geprägt, in welcher Kommentar und Information häufig vermischt wurden. Bis Anfang der 1960er-Jahre fielen zwei Drittel der hiesigen Publikationen in diese Kategorie. Die wenigen politisch neutralen Generalanzeiger im US-Stil wie die Tribune de Genève oder der Tages-Anzeiger waren noch keine abwechslungsreichen Forumszeitungen, sondern farblos neutral „niemandem zu lieb und niemandem zu leid“.[21]

Fakt Nr. 9: Der Blick half ihnen auf die Beine

Erst Ende der Sechzigerjahre, erst nachdem mit dem Blick die „Sensationspresse“ die Schweizer Presselandschaft aufgewühlt hatte, war die Sorge um die Zeitung, die viele Journalisten als „bloss absatzorientierte Ware“[22] von der Kommerzialisierung bedroht sahen, gross genug geworden und das Bewusstsein, dass Fakten nicht einfach da waren, sondern mit einer Vereinbarung hart gemacht werden mussten, verbreitet genug. Am 17. Juni 1972, genehmigten die Schweizer in Form der Delegiertenversammlung des Vereins Schweizer Presse ihre eigenen „Erklärungen der Pflichten und Rechte des Journalisten“. Die erste Pflicht des Kodexes lautete: „Er hält sich an die Wahrheit, ohne Rücksicht auf die sich daraus für ihn ergebenden Folgen, und lässt sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren“. Damit verpflichtete sich der Schweizer Journalismus erstmals offiziell und gleichwohl unverbindlich pauschal der „Wahrheit“ – das Wort Fakten kannte der Kodex nicht. „Das war eine sehr allgemeine Formulierung, der ein absoluter Wahrheitsbegriff zu Grunde lag“, erinnert sich Peter Studer.[23] Der damalige Redaktor und spätere Chefredaktor von Tages-Anzeiger und Schweizer Fernsehen war in den folgenden Jahren zusammen mit Roger Blum massgeblich daran beteiligt, dies zu ändern. In den präzisierenden Richtlinien 2000/2001 zur Erklärung der Pflichten war deshalb erstmals vom Gebot der Wahrheitssuche die Rede.[24] „Wahrheit lässt sich kaum überprüfen, aber die Regeln der Wahrheitssuche sehr wohl“[25]. Zu diesen Regeln gehören für ihn insbesondere die Gebote der Quellenüberprüfung (3), der Lauterkeit und Originalität der Quellen (4) und die Berichtigungspflicht (5). Und nicht anders als vor 100 Jahren bei Walter Lippmann gilt daher heute: „Objektivität wird damit nicht am journalistischen Endprodukt gemessen, sondern ist Merkmal der Vorgehensweise bei der Erkenntnisgewinnung“[26]. Dabei ist intersubjektive Nachprüfbarkeit zentral. So hat sich das journalistische Verständnis der Fakten dem juristischen angenähert, wo ganz einfach “als wahr gilt, wovon sich die zuständige juristische Behörde überzeugen konnte”.[27]

Fakt Nr. 10: Fakten kosten Geld

Wer sich als Leser oder Leserin eines Artikels nicht überzeugen lässt, braucht deshalb heute noch nicht gleich den Anwalt anzurufen. Der Presserat genügt noch immer in den meisten Fällen. Er ist damit nicht nur unkompliziertes Kontrollorgan, sondern auch glaubwürdiges Gütesiegel für Medien. Doch die Schweizer Institution, welche als erste den Faktengehalt der Medien überprüfen und kommunizieren sollte, kostet Geld. 216’000 Franken bezahlt die Trägerschaft bestehend aus impressum, syndicom, SSM, Verein Konferenz der ChefredaktorInnen“, SRG und Verband Schweizer Medien jährlich.[28] Das reicht nicht mehr. „Der Aufwand steigt stetig, wir sind in ein strukturelles Defizit abgedriftet,“ sagt Geschäftsführerin Ursina Wey.[29] Doch nicht nur die Finanzkraft, auch die Berichterstattung über die Stellungnahmen des Presserats ist knapper. Für Wey hat dies auch mit dem Abbau der Medienberichterstattung in vielen Schweizer Zeitungen zu tun. Man prüfe einen Ausbau der eigenen Kommunikationsaktivitäten, suche den Dialog mit den Redaktionen und zusätzliche Geldquellen. Auch wenn sie den Presserat finanziell unter Druck sieht, auf die Fakten hatte dies bisher noch keine messbare Auswirkung. Während die Beschwerden beim Presserat bezüglich der obengenannten Gebote in den letzten Jahren stetig angestiegen sind, haben seine ausgesprochenen Rügen nicht im selben Mass zugenommen.[30] Der Presserat fungiert also eher als glaubwürdiger Verteidiger journalistischer Fakten in Zeiten zunehmenden Zweifels.[31]

Fakt Nr. 11: Fakten sind immer noch robust…

Diese Robustheit der Fakten konstatiert auch Philipp Sarasin, Wissenschaftshistoriker an der Uni Zürich.[32] Ein Fakt existiere zwar immer in einem sozialen Kontext. Wir hätten keinen direkten, unverstellten und unvermittelten Zugang zur Welt und glaubten daher auch nicht an eine absolute, objektive Wahrheit. „Das heisst aber nicht, dass Fakten beliebig sind.“ Auch wenn jeder Fakt bloss das Resultat einer Argumentationskette sei: „Es gibt einen allgemeinen – vielleicht auch nur abendländischen, westlichen – Rationalitätsstandard, der auf Regeln beruht und das Resultat von Erkenntnisarbeit und Methoden ist“. Natürlich transportierten vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisarbeit Massenmedien Annahmen über eine bestimmte Sicht auf die Welt. „Aber was ist die Alternative?“ Verschwörungstheoretiker würden diese Rationalitätsstandards ignorieren. „Sie machen das Feld immer wieder ganz auf, von Null“. Damit würden sie aber Chaos fördern und Gesellschaft zerstören. „Und im Chaos entsteht das autoritäre Bedürfnis nach jemandem, der einem sagt, wie es ‚wirklich‘ ist.“

Fakt Nr. 12: … dürfen aber nicht mehr kosten.

Wenn Chaos durch die Verletzung von etablierten Regeln entsteht, beruht die Stärke der Schweizer Fakten neben dem teuren Justizapparat ganz besonders auf der Stärke des Presserats, welcher die Regeln bestimmt und überwacht.[33] Deshalb möchte dieser wieder sichtbarer werden. Indem er mit Publikationen wie der Weltwoche oder der Basler Zeitung, die seine Stellungnahmen nicht veröffentlichen, den Dialog sucht. Indem er direkter online kommuniziert, präsenter ist in sozialen Medien. Oder indem er häufiger selbst aktiv wird und nicht hauptsächlich erst auf Beschwerden reagiert. Deshalb ist Geschäftsführerin Wey wichtig, dass der Presserat breit abgestützt und auch durch die Verleger im Verband Schweizer Medien getragen ist.[34] Diese machten letzten Herbst einen geplanten Zahlungsstopp ihres Beitrags wieder rückgängig. „Das war kommunikativ ungeschickt“[35], gibt Geschäftsführer Andreas Häuptli auf Anfrage zu. Ein Austritt aus dem Presserat sei nie zur Debatte gestanden, bloss die Form der Finanzierung. Den Verlegern ist bewusst: „Wir müssen die Rolle der Medien besser erklären“. Dies geschieht zur Zeit mit der erwähnten Anti-Fake-News-Kampagne und soll künftig durch ein Engagement für fundierte Medienkompetenzausbildung an Schulen unterstützt werden. Die Fakten selbst, welche der Verband als „überprüfbare, komplette Informationen von vertrauenswürdigen Quellen“[36] versteht, dürfen vorerst nicht mehr kosten. Den Abbau der Medienberichterstattung, welcher dem Presserat Aufmerksamkeit und Wirkung gekostet hat, muss der Presserat mit eigener Kommunikation kompensieren. Eine Lösung fürs Finanzierungsproblem muss er selbst finden. Einspringen könnte aber jemand, dem die Fakten auch schon einmal sogar wichtiger waren als den Journalisten. [37]


Quellen:

[1] Inserat des Verbands Schweizer Medien, Mitteilung vom 10. März 2017: http://www.schweizermedien.ch/artikel/news/kampagne-gegen-fake-news

[2] Pietro Supinos Rede vom 10. Januar 2017, Dreikönigstagung: http://www.schweizermedien.ch/SCHM/media/SCHMMediaLibrary/Dreik%c3%b6nigstagung/DK17/170110_Dreikonigstagungsrede-2017_Dr-Pietro-Supino.pdf

[3] Stefan Betschon: „Fehler und Falschmeldungen“ NZZ, 15.11.2016: https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/social-media-fehler-und-falschmeldungen-ld.128348

[4] Constantin Seibt: „ Fakten? Fuck.“ Tages-Anzeiger, 16.11.2016: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/Fakten-Fuck/story/20953277

[5] Michèle Binswanger: „Die Moral der Nationalisten“ Tages-Anzeiger, 15.11.2016: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/Die-Moral-der-Nationalisten/story/21626916

[6] Freimütige These des Autors, die nun eben belegt werden soll.

[7] Kaspar Surber: „Faktencheck!“ WOZ, 22.12.2016. http://www.woz.ch/1651/auf-allen-kanaelen/faktencheck

[8] Michael Schudson: Discovering the News (1978), S. 14–16.

[9] Michael Schudson: Discovering the News (1978), S. 73.

[10] Michael Schudson: Discovering the News (1978), S. 87.

[11] Lorraine Daston & Peter Gallison: Objektivität (2007). S. 208–215.

[12] Tim Wu: The Attention Merchants (2016), S. 37–42.

[13] Michael Schudson: Discovering the News (1978), S. 142.

[14] Walter Lippmann: Liberty and the News (1920). S. 5.

[15] Walter Lippmann: Liberty and the News (1920). S. 67.

[16] Michael Schudson: Discovering the News (1978), S. 6.

[17] Robert D. Leigh: A Free and Responsible Press. Hutchins Report (1947), S. 22.

[18] Robert D. Leigh: A Free and Responsible Press. Hutchins Report (1947), S. 68.

[19] Robert D. Leigh: A Free and Responsible Press. Hutchins Report (1947), S. 1.

[20] Schweizer Presse, 1949.

[21] Matthias Künzler: Mediensystem Schweiz (2013), S. 207–208.

[22] Schlusswort von Arnold Fisch am Tag der Schweizer Presse, 15. Januar 1969. Schweizer Presse, 1969.

[23] Telefoninterview vom 31. März 2017.

[24] Peter Studer: „Wahrhaftigkeit in den Medien“. In Alois Riklin: Wahrhaftigkeit in Politik, Wirtschaft und Medien (2004), S. 146.

[25] Telefoninterview vom 31. März 2017.

[26] Michael Kunczik & Astrid Zipfel: Publizistik (2001), S. 282.

[27] Philippe Mastronardi: Juristisches Denken (2001), S. 198.

[28] Edito Nr. 1/2017, S. 7.

[29] Telefoninterview vom 17. März 2017.

[30] Jahresberichte des Presserats seit 2006. www.presserat.ch

[31]Freimütiger Schluss des Autors

[32] Interview vom 28. März, 2017.

[33] Freimütiger Schluss des Autors

[34] Telefoninterview vom 17. März 2017.

[35] Telefoninterview vom 31. März 2017.

[36] Email von Andreas Häuptli, 5. April 2017

[37] Gemäss Ursina Wey im Edito 1/2017, S. 7 prüft man eine Teilfinanzierung durch die öffentliche Hand.