«Individualisierter Unterricht führt in die Sackgasse»

Für Infosperber, 16. Dezember 2023

Der Pädagoge und Psychologe Beat Kissling im Interview über die Vereinzelung und das geforderte IT-Moratorium in der Primarschule.

Beat Kissling (68) ist promovierter Pädagoge und praktizierender Psychotherapeut in Zürich. Er verfügt über Lehrdiplome der Primar- und Sekundarstufe, war lange Gymnasiallehrer sowie Dozent in der Lehrerbildung und an der Fachhochschule. Er meldet sich in Bildungsfragen immer wieder kritisch zu Wort und gehört als Gründungsmitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen zu den Erstunterzeichnenden des Aufrufs für ein Digitalisierungsmoratorium an KITAs und Primarschulen.

Herr Kissling, die Ergebnisse der neuen PISA-Studie werden derzeit intensiv diskutiert. Wie interpretieren Sie die Resultate?

Dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler buchstäblich «abgehängt» wird und deshalb am Ende der Schule kaum Lesen und Schreiben kann, war allen, die mit der Schulentwicklung vertraut sind längstens bekannt. Seit der Einführung der PISA-Tests testet und vergleicht die Schweiz in den Volksschulen fleissig.

Woher kommt diese Leistungsschere?

Ich führe sie auf die fehlgeleiteten Reformen der letzten Jahrzehnte zurück. Wichtig ist zunächst, den grossen Wandel seit der Jahrtausendwende zu verstehen. Seit PISA haben wir einen Paradigmenwechsel an unseren Schulen erlebt: Weg von der Orientierung daran, was die Lehrperson macht, also wie und was sie vermittelt. Jetzt zählt vielmehr, was rauskommt, das Messbare. Wir schauen auf den Output. Die PISA-Studien haben auch ein neues Verständnis von «Kompetenz» eingeführt. Das tönt ja gut. Einem kompetenten Handwerker kann man vertrauen, weil dieser über viel Fachwissen, Erfahrung und Geschick verfügt. Aber eigentlich meint man jetzt damit Performance, eben etwas Messbares, eben Testresultate. Die Folge ist das «Teaching to the test». Dass die Schülerinnen und Schüler also zwangsläufig vorwiegend auf diese Tests vorbereitet werden müssen. Die Einführung dieser PISA-Testkultur in der Schule haben wir der OECD-Initiative zu verdanken. In anderen Ländern hat dieser Wandel dieselben uniformierenden Auswirkungen.

Weshalb?

Jedes Land hat eine eigene Kultur und damit ein eigenes, historisch gewachsenes Bildungswesen. Die Schweiz mass der Volksbildung seit der Gründung des Bundesstaates grösste Bedeutung zu. Dies zahlte sich aus. Die Berufsbildung und der gymnasiale Weg haben jungen Menschen sehr viele Perspektiven eröffnet. Unser Bildungswesen zeichnete das sehr hohe Gesamtbildungsniveau der Bevölkerung aus, wie internationale Studien in den 1990er Jahren gezeigt haben. Die Schweiz strebt keine Elitebildung, sondern eine sehr gute Bildung für alle im Sinne des Gemeinwohls an. Die traditionelle Idee der Volksschule war doch, dass Kinder mit ganz verschiedenen Hintergründen und Leistungsniveaus lernen, miteinander zusammenzuarbeiten, das Lernen zu lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen und einander zu unterstützen. Dies war und ist nach wie vor demokratiepolitisch von grosser Bedeutung.

Dies ist heute weniger der Fall?

Es sieht so aus. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Schaut man die grossen Linien der Schulentwicklung der letzten 30 Jahre hierzulande an, fällt auch die immer stärker forcierte «Individualisierung» des Unterrichts auf. Sie geht mit dem Testen und Kontrollieren einher. Individualisierung bedeutet, dass die Lehrpersonen den Unterricht nicht mehr als gemeinsames Erlebnis gestalten. Sie sind als eigenständige, gestaltende Führungspersönlichkeiten, welche die Gemeinschaft im Auge haben, weniger gefragt. Stattdessen sollen die Lehrpersonen als «Arrangeure», «Moderatoren» und «Coachs» ihren Schülerinnen und Schülern «Lernumgebungen» anbieten. Diese sollen sich nun alles selbstverantwortlich erarbeiten. Man spricht heute in diesem Zusammenhang von «Chancengerechtigkeit». Demnach steht es – laut Theorie – jedem Kind unabhängig von seiner Herkunft offen, jeden gewünschten Bildungsweg zu beschreiten – alles nur abhängig von den eigenen Bemühungen.

Weshalb soll dies schlecht sein?

Die schwächeren Schülerinnen und Schüler werden vollkommen im Stich gelassen. Das Resultat zeigt aktuell PISA: ein Viertel der Schülerschaft wird geistig-moralisch «abgehängt». Die Vereinzelung der Schüler durch die Individualisierung beziehungsweise das «selbstorganisierte Lernen» führt nämlich schon sehr früh zu einer extremen Leistungsschere. Die Folgen sind: Sehr viel Unruhe, Unkonzentriertheit, Ablenkbarkeit bis hin zur Resignation und Schulschwänzerei bei den unsicheren Schülerinnen und Schülern. So landen sie schlussendlich zur Abklärung bei der Schulpsychologie. Da werden sie zumeist mit Diagnosen beglückt und nicht selten medikalisiert. Für diese Kinder und Jugendlichen ist die vergleichende Testerei alles andere als ein ermutigendes Erlebnis. Sie erfahren Mal für Mal, dass sie faule, unfähige Versager sind. Hilfe und Solidarität erfahren sie kaum. Die guten, vifen und von zuhause gut unterstützten Schüler realisieren das Schicksal ihrer schwächeren Mitschülerinnen und -schüler nicht. Sie sind mit ihrer eigenen Schulkarriere beschäftigt.

Wie könnte denn guter Unterricht funktionieren, der alle mitnimmt?

Dies steht und fällt mit der Lehrperson. Zur Veranschaulichung: Eine Lehrerin führt mit einer Klasse eine neue Rechnungsart ein und spielt den Rechnungsweg mit ein paar Beispielen durch. Dann fragt sie die Klasse, wer von Ihnen ein Beispiel vorrechnen könnte. Es melden sich die cleveren Schüler. So werden viele Beispiele vor der Klasse gelöst, sodass allmählich auch die schwächeren Schüler den Eindruck erhalten, sie hätten die Regel verstanden. Für die schwachen Schüler ist es eine grosse Erleichterung, dass sie nicht zurückgelassen, sondern zuverlässig und stetig unterstützt werden.

Die NZZ am Sonntag machte im August ein Interview mit einem sehr erfolgreichen Mathelehrer im Kanton Zürich. Er ist unter den Schülerinnen und Schülern sehr beliebt. Er sagt, er sei sehr nahe an seinen Schülern dran, es entgehe ihm nicht, wenn jemand abhänge. Er wolle stets verhindern, dass die Schwächeren sich zurückziehen.

Sie gehören zu den Erstunterzeichnern eines Aufrufs, in welchem Wissenschaftler ein IT-Moratorium fordern. Weshalb?

Der Einsatz digitaler Medien in der Schule verstärkt die Individualisierung des Lernens – die Distanz zur Lehrperson, die Isolation der Schwächeren. Es spricht vieles dafür, dass dieser Trend wesentlich mitverantwortlich dafür ist, dass bei so vielen Kindern und Jugendlichen psychische Probleme auftreten. Eine kürzlich veröffentlichte Studie über das Befinden Jugendlicher in Zürich zeigt ja, dass es insbesondere Mädchen immer schlechter geht. Der verantwortliche Schulpsychologe spricht von der «Schattenseite von Individualisierung und Optimierung». Ich fand aber auch besonders interessant, dass immer weniger Jugendliche angeben, ein starkes Vertrauen in ihre Lehrperson zu haben.

Sie sehen dies auch bei ihrer Arbeit in der Praxis?

Ja! Die tieferen psychischen Schwierigkeiten von Menschen sind nach meiner Erfahrung vor allem sozialer Natur, dies nicht nur bei Autismus und schweren Depressionen. In der psychologischen Praxis sehe ich, wie viele Menschen sich in unseren Breitengraden einsam fühlen, auch wenn man es ihnen nicht unbedingt ansieht. Die digitalen «Freundschaften» und die entsprechende Kommunikation basieren nicht auf realen zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie bleiben häufig Illusion. Es ist erschütternd zu sehen, wieviel Lebenszeit junge Menschen in virtuellen Welten vergeuden, beim Gamen und mit einer sprachlich verstümmelten Form der Kommunikation.

Die bedeutsame Jugendzeit ist bei Menschen, die sich wesentlich im digitalen Raum bewegen, verloren. Ähnlich wie bei einem Kiffer, der sich den Auseinandersetzungen mit den Anforderungen der Realität durch die Flucht in die Droge entzieht und dadurch in seiner Persönlichkeit kaum reifen kann. Wir Erwachsenen, Lehrpersonen und Eltern sollten die jungen Leute darin unterstützen, in der Nachbarschaft oder über Vereinsaktivitäten reale Beziehungen zu knüpfen und sinnreiche Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen zu teilen. Die Schulen sollten den Kindern und Jugendlichen zu wertvollen Ideen, Erfahrungen und Interessen verhelfen, damit sie sich in ihrer Freizeit mit anderen Gleichaltrigen diesen widmen können.

Ein Digitalisierungsstopp für Kinder unter 12 Jahren an Schulen könnte dies ändern?

Mit der zunehmenden Dominanz des Digitalen vor allem im Kindesalter geht einfach sehr viel soziale Interaktionserfahrung verloren. Medienkompetenz hiesse laut kritischen Medienfachleuten deshalb in diesem Alter zuerst einmal: Medienabstinenz. Der Aufruf, den ich als Erstunterzeichner mit unterstützt habe, verteufelt die Digitalgeräte ja nicht grundsätzlich. Er fordert aber einen Stopp für deren Einsatz in der Schule bis 12 Jahre – also bis Ende Primarschule. Das finde ich sinnvoll. Mit 12 oder 13 beginnt sich das Interesse des jungen Menschen zu erweitern. Diese geistige Ausweitung des Horizonts kommt der Fähigkeit entgegen, sich kritisch mit allen möglichen Fragen, so auch mit den Medienangeboten auseinanderzusetzen.

Es ist wichtig, dass ihnen bewusst wird: Um das Internet wirklich gut nutzen zu können, muss man schon sehr viel wissen. Sonst läuft man Gefahr, einfach dem aufzusitzen, worauf man zufällig stösst. Es braucht eine öffentliche Diskussion darüber, wie sich die Digitalisierung auf das Wohl der Lernenden auswirkt. Das Moratorium an KITAs und Primarschulen wäre ein Zeichen an uns alle, mehr Verantwortung zu übernehmen und genauer hinzuschauen.

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