Handys strahlten jahrzehntelang viel zu stark – bis heute?

Für Infosperber, 18. Januar 2024

Die Mobiltelefonhersteller führten bewusst unrealistische Strahlungstests durch. Noch heute gibt es kaum unabhängige Kontrollen.

Erst vor wenigen Jahren zeigten die sogenannten Phonegate-Enthüllungen, dass die von mobilen Geräten ausgehende Strahlung ungenügend kontrolliert wird. Mit Ausnahme des Beobachters (Paywall) berichtete bisher hierzulande kein Medium vertieft darüber.

Wie stark die Strahlung mobiler Geräte wie Smartphones oder Tablets auf den menschlichen Körper wirkt, wird über den sogenannten SAR-Wert gemessen. Dieser bestimmt die absorbierte Energie an einer bestimmten Körperstelle über die Messung der Temperatur auf der Haut.

Doch die Grenzwerte sind umstritten. Erstens, weil die Hersteller mitbestimmen, wie gemessen wird. Zweitens, weil Wissenschaftler davon ausgehen, dass eine reine Temperaturmessung nicht ausschliesst, dass die Strahlung anderweitig – und bereits bei tieferer Intensität – auf den Körper wirkt. Und drittens, weil eben wie in der Schweiz kaum unabhängig kontrolliert wird, ob die Geräte die festgelegten Grenzwerte einhalten.

Französische Behörde publiziert interne Zahlen

Im Juli 2016 publizierte die französische Behörde ANSES einen Expertenbericht (englische Zusammenfassung) über die Gesundheitsrisiken elektromagnetischer Strahlung für Kinder. Der Bericht erwähnte Messungen der staatlichen Agentur für Frequenzen und Strahlung (ANFR) von 2015. Diese sollen zeigen, dass fast 90 Prozent der getesteten Mobiltelefone die festgelegten SAR-Grenzwerte überschreiten. Einige Geräte strahlten gar zwei- bis dreimal zu viel.

Der Arzt Marc Arazi verlangte sofort die Herausgabe der detaillierten ANFR-Messresultate. Er arbeitete mit einer Journalistin an einem Buch zu den Gesundheitsrisiken elektromagnetischer Strahlung und verstand die Aussagen des Berichts. Und diese waren viel brisanter, als erste Medienberichte vorgaben. Der Bericht stellte nämlich infrage, wie die Strahlung mobiler Endgeräte überhaupt gemessen und eingestuft wurde.

Doch erst nach einem Jahr juristischen und medialen Seilziehens gab ANFR einen Teil der Resultate frei. Sie überraschten, denn populäre und massenhaft genutzte Geräte von Apple, Sony oder Nokia überschritten die Grenzwerte um ein Vielfaches – und zwar seit 2012. Gleichwohl wurden sie als konform eingestuft.

Unrealistische Messmethoden – jahrelang

Der Grund: Die ANFR mass die Strahlungsintensität am Gerät selber. Die Hersteller jedoch mit Abständen von bis zu 25 Millimetern vom Körper. Weil die Strahlung mit steigendem Abstand von der Quelle quadratisch abnimmt, konnten sie so Testresultate vorweisen, bei welchen die Geräte die Grenzwerte einhielten. Erst 2017 wurde der Abstand auf 5 Millimeter vereinheitlicht – ein Kompromiss. Mit anderen Worten: Wenn Geräte ans Ohr gedrückt oder in der Hosentasche getragen werden, dürfen sie an diesen Stellen die Grenzwerte überschreiten.

In Anlehnung an den Dieselgate-Skandal um die Abgasmessungen bei Volkswagen begann Arazi die Enthüllung «Phonegate» zu nennen (er beschreibt die Vorgänge in seinem Buch – in Französisch oder Englisch). Es dauerte bis im April 2018, ehe Frankreich ein erstes Telefon wegen zu hoher Strahlung zurückrief. Arazis international vernetzte Initiative «Phonegate Alert» forderte im August 2018 den weltweiten Rückruf von über 250 Modellen, weil sie zu hohe Testwerte auswiesen. Doch die ANFR stemmte sich weiterhin gegen die Herausgabe der detaillierten Testberichte, obschon die Hersteller diese bereits erhalten hatten.

US-Messungen liefern Bestätigung

Im August 2019 veröffentlichte die Chicago Tribune einen Artikel eines mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Investigativjournalisten über eigene Messungen, welche ebenfalls viel zu hohe Strahlungswerte feststellten. Nachdem Hersteller wie Apple die Ergebnisse in Zweifel gezogen hatten, legte die Zeitung nach – worauf die Kritik verstummte. Im Herbst 2019 publizierte ANSES einen ausführlichen Bericht über die Messungen von Gerätestrahlung und deren Risiken für Kinder, den die Behörde über zwei Jahre zurückgehalten hatte. Darin empfahl sie, dass die Messungen direkt am Gerät durchgeführt werden und kein Abstand zum Körper miteingerechnet wird.

Der Bericht zitiert auch verschiedene Publikationen des emeritierten ETH-Professors Niels Kuster, welcher die Messanlagen mitentwickelte und sie heute mit dem Unternehmen SPEAG weltweit verkauft.

SPEAG ist führend auf dem internationalen Messmarkt und entwickelt numerische Werkzeuge und Instrumente für die genaue Bewertung elektromagnetischer Nah- und Fernfelder. Es liefert an Testlabore, Hersteller und Regierungen, die unabhängige Tests von Mobiltelefonen durchführen. Niels Kuster sagt, diese Tests seien aufwändig und teuer.

Deshalb wird eigentlich nur das erste Gerät für die Zulassung vollständig ausgemessen. Neben Frankreich testen in Europa Deutschland und Finnland vereinzelt. Allerdings kaufen die Franzosen als einzige europäische Behörde eine grössere Anzahl von Geräten stichprobenartig in Läden und testen danach im eigenen Labor und einem externen Testhaus.

Kuster sagt gegenüber Infosperber: «Behörden messen Mobiltelefone nach, weil Softwareänderungen oder der Ersatz von Komponenten im Herstellungsprozess die Exposition deutlich ändern können.» 

Hersteller können die Software der Geräte auch für einzelne Länder anpassen. Mobiltelefone des selben Modells können also in zwei verschiedenen Ländern unterschiedlich stark strahlen.

Strengere Messungen in Sicht – in Frankreich

Heute wartet Phonegate Alert weiterhin auf die detaillierten Berichte der Messungen seit 2012. Sie sind wichtig, weil die französischen Behörden andere europäische Länder – wie auch die Schweiz – eigentlich darüber hätten informieren müssen, dass über 40 Handymodelle viel zu hohe Strahlungswerte auswiesen. Und weil die Hersteller die Strahlung ihrer Geräte je nach Land noch immer mit mindestens fünf Millimeter Körperabstand messen dürfen, hat die NGO einen Rechner entwickelt. Dieser gibt den effektiven SAR-Wert des entsprechenden Geräts an. Ob das eigene Gerät also die Grenzwerte wirklich einhält, müssen Nutzende vorerst noch immer selber eruieren. Und können es nur abschätzen.

Dies könnte sich jedoch ändern. Denn Frankreich beantragte 2020 in der EU, dass die Grenzwerte neu ohne Abstand eingehalten werden müssen. Niels Kuster erwartet, dass die Änderung diesen Sommer in Kraft treten wird. «Obschon die Industrie daran keine Freude hat, weil es schwieriger wird, konforme Geräte zu produzieren.»

Ob die Geräte die neuen Standards aber dauerhaft einhalten können, dürfte ohne Tests in den entsprechenden Ländern unsicher sein. Denn bisher testet eben nur Frankreich systematisch.


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