Parlament gegen Stimmvolk: Der Filz ist der Mensch

Für Infosperber, 8. März 2024

Verliert das Parlament eine Abstimmung, werden bezahlte Lobby-Mandate einzelner Mitglieder besonders augenfällig.

Gregor Rutz ist vom Zürcher Stimmvolk gewählter Nationalrat. Als solcher ist er dafür zuständig, Gesetze zu schaffen. Dafür erhält er Geld aus der Staatskasse. Rutz ist aber auch Präsident des Schweizerischen Tabakwarenhandels. Dafür erhält er Geld von der hiesigen Tabakindustrie. Wie viel ist bisher nicht bekannt. Die Rollen kann er wechseln, wie ihm beliebt.

Für die Umsetzung der Tabakwerbeverbotsinitiative war Rutz nicht direkt zuständig, weil er nicht Mitglied der entsprechenden Nationalratskommission war. Bei diesem Geschäft trat er als bestmöglich informierter und vernetzter Lobbyist auf. Und als solcher stellte er sich letzten Donnerstag den Fragen der SRF-Nachrichtensendung 10 vor 10.

Der Nationalrat hatte kurz zuvor die von der Kommission vorgeschlagene Umsetzung der Volksinitiative abgelehnt, weil das Verbot der Ratslinken zu wenig weit ging. Ein Punkt war gemäss Bundesamt für Justiz gar verfassungswidrig. Dass mobiles Verkaufspersonal dort zum Einsatz kommen kann, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten sei nämlich bereits als Werbeauftritt zu taxieren.

Rutz indirekt: Werbeverbote bräuchten eine Volksinitiative

Deshalb wollte SRF-Journalistin Nathalie Christen wissen: Was sind Tabak-Hostessen, wenn nicht Werbung?

Rutz: «Es geht um ein persönliches Gespräch, wo man über ein Produkt reden will. Unter Werbung versteht man Inserate, Plakate, Werbespots. Werbefreiheit ist ein Kommunikationsgrundrecht, wie die Meinungsäusserung in der Demokratie. Die Werbefreiheit ist in der Marktwirtschaft die Grundlage, dass Wettbewerb stattfinden kann. Wenn man ein Produkt verkauft oder eine Dienstleistung anbietet, muss man dafür auch Werbung machen können.»

Rutz sagte gmögig grinsend also übersetzt: Ein persönliches Gespräch über ein Produkt, initiiert von Vertretungen der Firma, die dieses Produkt verkauft, sei keine Werbung. Und schob dann trotzdem nach: Werbung sei ohnehin durch die Verfassung geschützt. Man hätte glatt meinen können, Rutz wollte darauf hinweisen, dass es eine Volksinitiative bräuchte zur Verfassungsänderung, obschon er über die Umsetzung ebendieser interviewt wurde. Er sagte im Interview auch, er nehme den Volkswillen «sehr ernst».

Die Transparenz-Organisation Lobbywatch belegte vor eineinhalb Jahren, dass die Parlamentsmitglieder wie Rutz hunderte bezahlter Mandate haben. Mitglieder von Mitte (245), FDP (218) und SVP (186) dominierten. Der Spitzenreiter, FDP-Politiker Peter Schilliger, vereinigte alleine 18 davon auf seine Person. Rutz ist nur ein Beispiel.

Aber es zeigt einmal mehr, dass der Filz in Bundesbern nicht zuerst aus obskuren Verbindungen zwischen Parlamentariern und Interessengruppen besteht. Vielmehr sind es einzelne gewählte Parlamentsmitglieder, die den Filz ausmachen. Deren hochpolitische Doppelrollen sind existenziell. Deshalb werden sie vor unser aller Augen, Ohren und Kameras mit rhetorischen Purzelbäumen gespielt. Sogar ein Kommunikationsprofi wie Rutz kann  sie offensichtlich in einem TV-Interview nicht verheimlichen.

Ein heutiger Bundesrat und der Mitte-Präsident sind vorne mit dabei: Die Top Ten der Parlamentsmitglieder mit den meisten bezahlten Mandaten. Zusammenstellung vom Oktober 2022. © Lobbywatch

«Optimale Branchenvertretung dank Doppelrolle»

Dass sie von Bezahlmandaten profitieren, geben Wirtschaftsverbände freimütig zu. Auch hierzu nur ein Beispiel: Bei den Wahlen im vergangenen Herbst wurde die GLP-Nationalrätin Judith Bellaïche abgewählt. Vor wenigen Tagen gab sie bekannt, dass sie auch die Geschäftsführung des Digitalverbands Swico, der Interessenvertretung der ICT- und Internetbranche, abgeben wird. Bellaiïche war 2019 als Zürcher Kantonsrätin im Frühling 2019 Swico-Geschäftsführerin geworden. Wenige Monate später wählten Zürcher Stimmberechtigte Bellaïche ins Parlament.

Ihre Abwahl sei zwar nicht der Hauptgrund für ihre berufliche Neuorientierung gewesen, gab sie kürzlich auf persoenlich.com bekannt. Dass sie nicht mehr Nationalrätin sei, habe aber «allenfalls mitgeschwungen». Der Verband schrieb in einer Medienmitteilung: «Dank ihrer Doppelrolle als Nationalrätin konnte sie Digitalthemen in der Politik und Öffentlichkeit platzieren und die Interessen der Branche optimal vertreten.»

Kein Wunder: Über Parlamentsmitglieder und ihre maximal zwei registrierten persönlichen Mitarbeitenden erhalten Sonderinteressen besseren Zugang zu politisch wichtigen Informationen als Journalistinnen und Journalisten. Das Parlament ist vom Öffentlichkeitsgesetz ausgenommen und Kommissionsberichte grundsätzlich geheim.

Mangels griffiger Gesetze sind die Parlamentsmitglieder selber dafür verantwortlich, wie sie Volksvertretungs- und Portemonnaie-Interesse vereinbaren. So können Bürgerinnen und Bürger seit den Wahlen im Herbst nur zuschauen, wie ihre Stimmen in wenigen Monaten anderswo zu Moneten werden. Wie gross die Versuchung bei den frisch Gewählten ist, ihr Sackgeld auch nur für die gesicherten vier Jahre mit lukrativen Mandaten aufzubessern, wird sich demnächst zeigen. Die Transparenz-Organisation Lobbywatch hat die Interessenbindungen aller Neugewählten recherchiert und wird sie in knapp zwei Wochen veröffentlichen.

Dies ist besonders interessant, weil das Parlament jetzt aushandeln muss, wie es die deutlich angenommene Initiative für die 13. AHV-Rente umsetzen will. Vor einem Jahr hatte noch das «alte Parlament» die Initiative abgelehnt. Wie zuvor auch die Tabakwerbeverbotsinitiative, zu der das Stimmvolk ebenso deutlich «Ja» gesagt hatte.

Mitte mit gut bezahltem Zünglein

Wichtig für die noch höchst ungewisse Umsetzung der AHV-Initiative dürfte die Mitte-Fraktion sein. Sie war bereits massgeblich an der Verwässerung der Tabakinitiative-Umsetzung beteiligt (Infosperber berichtete). Bei der letzten Zählung hatten ihre Mitglieder die meisten bezahlten Mandate pro Kopf. Nur eine Minderheit davon war aber bereit, die Höhe der Vergütungen gegenüber Lobbywatch anzugeben.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister kritisierte vor den vergangenen Parlamentswahlen den Lobbyismus im Parlament, legte die Einkünfte aus seinen eigenen 15 Mandaten (Stand: Oktober 2022, siehe oben) aber nicht offen und vergass auch, eines davon überhaupt zu deklarieren. Im Parlament hatte er sich zudem gegen griffigere Transparenzregeln gestemmt (Infosperber berichtete). Der WOZ sagte er, er gehe davon aus, dass alle Parlamentsmitglieder das Beste für die Schweiz im Sinn haben und Anliegen von Lobbys gewichten und entsprechend einordnen können. «Die bestehenden Regeln genügen. Ich bin ein Anhänger der Selbstverantwortung.»

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Pascal Sigg ist Mitglied von Lobbywatch.
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