Im Februar 2017 recherchierte ich für das Branchenmagazin Schweizer Journalist einen längeren Beitrag über die Schweizer Zeitschriften (ja, es gibt sie!) welche maximal einmal wöchentlich erscheinen und in den ersten zwanzig Jahren der Schweizer Online-Medien keine LeserInnen verloren haben. Ihre Erfolgsformel: Klare Identität und keine Inhalte online verschenken. Ein Höhepunkt meiner Recherchen war ganz klar das Gespräch mit dem ehemaligen Tagi-Chefredaktor und heutigen Watson-Journalisten Philipp Löpfe, der im Jahr 2000 überzeugt war, dass das Internet dem Tagi nichts anhaben konnte. Er sagte: „Besonders die Newsroom-Strategie ist ein gigantischer Irrweg“. Man könne nicht einfach Inhalte top-down in Auftrag geben, in unterschiedliche Kanäle verteilen oder von Kunden aus dem In- und Ausland einkaufen. Der Versuch, damit den Journalismus zu industrialisieren, ergebe einen austauschbaren Brei ohne Identität. „Ein Verlag ist keine Autofabrik, weil eine diskutierende Redaktion mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile.“ Der Artikel wurde im Schweizer Journalist 2+3 (März 2017) gedruckt. Hier ist er in voller Länge zu lesen.
PDF-Version (inkl. Interview mit Gilbert Bühler, Freiburger Nachrichten): Erfolg ohne Netz
Erfolg ohne Netz
20 Jahre nachdem die ersten Schweizer Printmedien Inhalte online publizierten, schreitet der teure Digitalisierungsumbau auf vielen Redaktionen voran. Dabei haben einige der erfolgreichsten Printtitel der letzten Jahre das Internet nicht zuerst als Publikationsmedium verstanden. Und damit einträglich an ihren einzigartigen Marken festgehalten.
Zweieinhalb Jahre nach dem Tages-Anzeiger ging die NZZ online. Im Juni 1997 stand im Blatt, dass „die grosse Internet-Euphorie vieler Verlage bereits abebbt und erkennbar geworden ist, dass sich mit qualitativ hochstehenden Leistungen im Internet kein rasches Geld verdienen lässt.“ Kein rasches Geld: Das stimmt weiterhin. Doch noch heute, 20 Jahre nach Beginn des digitalen Medienzeitalters, stecken Schweizer Medienhäuser Millionen in digitale Projekte, bauen Journalistenstellen ab und schwächen die eigenen Print-Produkte ohne Geschäftsmodelle für digitalen Journalismus gefunden zu haben. Sind diese digitalen Umrüstungen zum jetzigen Zeitpunkt begründet? Wird Print tatsächlich bald sterben?
Nja, es ist kompliziert. Wenn man Leserzahlen und Auflagen der Schweizer Printtitel von 2006 und 2016 (Wemf MACH Basic) vergleicht, fällt auf, dass fast alle Titel verloren haben. Erwartungsgemäss haben national ausgerichtete Tageszeitungen stärker verloren als Regionalzeitungen. Sie befinden sich in stärkerem Konkurrenzkampf mit günstiger oder gar umsonst erhältlichen Angeboten von SRF oder Gratiszeitungen. Viele Regional- und Lokalzeitungen haben ebenfalls eingebüsst und auch gedruckte Zeitschriften haben verloren. Doch bei genauerem Blick lässt sich nicht einzig die Online-Konkurrenz auf dem Leser- und Werbemarkt dafür verantwortlich machen. Beispielsweise weil die Printausgabe von 20 Minuten in den letzten zehn Jahren zugelegt hat. Oder weil noch heute bis auf den Blick alle Zeitungen mehr Print- als Onlineleser verzeichnen. Oder weil die Verluste je nach Medientitel unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Oder eben auch, weil es Titel wie die Freiburger Nachrichten (siehe Interview mit Direktor Gilbert Bühler), die Schweizer Familie oder die WOZ gibt, welche in den vergangenen zehn Jahren entweder bloss marginal verloren oder gar zugelegt haben. Print scheint also immer noch sehr langsam und nur unter Umständen zu sterben.
Diese Widerstandsfähigkeit gedruckter Zeitungen hat Iris Chyi, Professorin für Neue Medien an der University of Austin untersucht. Sie hat unter anderem die Leserdaten der 51 grössten US-Zeitungen analysiert und festgestellt: Die angeblich sterbenden Print-Ausgaben sind ihren angeblich hoffnungsvollen digitalen Gegenstücken noch immer in fast jeder Hinsicht überlegen. Sei es in Bezug auf Leserschaft, Engagement, Werbeeinnahmen oder die Bereitschaft, für das Produkt zu zahlen. Ihre Forschung zeigt auch, dass unter den 18 bis 24-jährigen US-Lesern doppelt so viele die Printausgabe eines bestimmten Titels dem digitalen Angebot vorzogen. Sie findet daher, dass Verleger besser daran täten, in die (immer noch) profitablen Zeitungen und damit ihren unverwechselbaren Inhalt zu investieren, als in teure Digitalisierungsprojekte, welche gleichzeitig die redaktionelle Leistung und damit Inhalt und Identität schwächen.
Es ist unmöglich zu sagen, wie sich die gebeutelten Schweizer Printtitel entwickelt hätten, hätten sie Chyis mit US-Daten begründeten Rat befolgt. Eine Umfrage bei drei der erfolgreichsten Printmarken der letzten zehn Jahre zeigt jedoch: Sie haben ziemlich genau dies getan.
„Wir haben im Verhältnis zu anderen sehr wenig in unseren Webauftritt investiert“, sagt beispielsweise Daniel Dunkel, Chefredaktor der Schweizer Familie. Die Website der Zeitschrift dient in erster Linie als Marketing-Instrument, welches das eigentliche Produkt bewirbt und den Kontakt zur Leserschaft online pflegt. Dunkel und sein Team konnte bis anhin keinen zwingenden Grund ausmachen, die Schweizer Familie für Bildschirme aufzubereiten. Die Leserschaft, über 90% Abo-Kunden, sei sehr print-orientiert. Zwar verfügt die Zeitschrift über ein E-Paper-Angebot. „Das ist aber nicht sehr gefragt. Die Leute haben nicht darauf gewartet“, so Dunkel. Er sieht den Grund des anhaltenden Erfolgs der Schweizer Familie, welche in den letzten Jahren nur marginal an Leserschaft verloren hat (Zahlen in Kasten), in ihrem Charakter als gedruckte Zeitschrift begründet. „Je mehr die Digitalisierung fortschreitet, desto exklusiver wird Print“. Die breite Bevölkerung schätze das Lesen auf Papier, das gedruckte Bild, die sorgfältig gestaltete Grafik eben nach wie vor. „Man kann Inhalte ausschneiden oder das Heft weitergeben.“ Bei der Schweizer Familie ist man dennoch gerade daran, den Webauftritt zu erneuern. „Aufgrund der Performance der Zeitschrift wäre das nicht nötig“, so Dunkel. Er spürt keinen Druck der Leserschaft und wird daher auch nicht einfach den Print-Inhalt online spiegeln, sondern vielmehr eine Service-Plattform mit Rezepten und Ausflugstipps aufbauen, welche einen Zusatznutzen für Abonnenten bieten und eine neue, digital affine Leserschaft anziehen soll.
Ähnlich selbstbewusst ist die WOZ aufgetreten. Die linke Wochenzeitschrift hat in den vergangenen zehn Jahren sowohl Reichweite, wie auch Auflage gesteigert. „Unsere Website ist – ganz altmodisch – die Visitenkarte der WOZ im Internet“, sagt Camille Roseau, im Verlag für digitale Weiterentwicklung zuständig. Zwar hat man in den letzten fünf Jahren viel in die strukturelle Erneuerung des Webauftritts investiert. Doch die Investitionen beschränkten sich darauf, das Design zu modernisieren, die Website für mobile Endgeräte zu optimieren und eine App zu entwickeln. „Redaktionell investieren wir aber nur sehr wenig in die digitale Ausgabe. Wir publizieren auf allen Kanälen praktisch die gleichen Inhalte, welche aus Text und Bild bestehen“, so Roseau. Diese Inhalte sind bis auf wenige Ausnahmen, von welcher sich die Redaktion Erfolge in den sozialen Medien verspricht, nur für zahlende Leserinnen und Leser zugänglich. Auch das Abo gibt es nicht günstiger in Digitalvariante. Roseau begründet: „Für uns ist die WOZ ein journalistisches Projekt, das dank seiner Leserschaft Bestand hat. Daher richtet sich der Beitrag, den eine Abonnentin oder ein Abonnent bezahlt, nicht nach dem Kanal, über den die WOZ gelesen wird“. Ausschlaggebend sei vielmehr, wie viel Leserinnen und Leser zu bezahlen im Stand seien.
Dass Zeitschriften, welche nicht täglich erscheinen, besser mit dem Wandel umgehen können, ist nicht besonders erstaunlich. Daher fällt besonders der Erfolg der Freiburger Nachrichten ins Auge. Der Titel hat in den vergangenen zehn Jahren als einzige Schweizer Tageszeitung abgesehen von 20 Minuten nicht an Leserschaft und kaum an Auflage verlorenen. Direktor Gilbert Bühler (siehe Interview im PDF unten) begründet diesen Erfolg mit konsequentem Fokus auf die Region und die damit verbundene Einzigartigkeit der Zeitungsinhalte, welche man online keinesfalls gratis anbietet. Wer digital lesen will, kann das. Er muss aber zwingend bezahlen. „Bei einer Redaktion unserer Grösse kann man nicht sparen ohne das publizistische Angebot zu schmälern“, sagt Bühler, der neben der Freiburger Nachrichten noch zwei weitere Lokalzeitungen herausgibt. Man müsse in diesem Geschäft ganz nahe an der Leserschaft sein und diese spüren. „Murtner sind keine Sensler. Die ersten sind historisch reformiert und freisinnig, die anderen ursprünglich katholisch-konservativ. Unsere drei Zeitungen sind seit langer Zeit politisch und konfessionell neutral“. Bühler sieht seine Lokalzeitung zwar in einem schwächeren Konkurrenzkampf als andere Schweizer Tageszeitungen. In dieser Situation eines Quasi-Print-Monopols sehen sich aber viele Zeitungen mit regionalem Fokus, die in den letzten zehn Jahren stärker verloren haben als die Freiburger Nachrichten.
Ein Grund, der überall von den Verlegern für die Verluste angeführt wird, ist der angespannte Werbemarkt. Tatsache ist, dass die Werbeumsätze in den letzten fünf Jahren um 28% eingebrochen sind. Die Umsätze der Printmedien sind aber weiterhin auf einem hohen Niveau, nämlich fast doppelt so hoch wie zum Beispiel TV-Werbung. „Klar hat Print massiv an Rubrikenanzeigen verloren, aber ein Teil davon wird immer bleiben“, sagt Urs Schneider, Gründer und Verwaltungsrat der mediaschneider Gruppe. „Es gibt zum Beispiel einen Rubrikenmarkt für Leute, die sich ständig vorstellen könnten, die Wohnung oder den Job zu wechseln, aber dafür nicht bewusst auf der entsprechenden Plattform suchen.“ Die Rubriken, welche ins Internet abgewandert sind, würden den grössten Teil des Kuchens ausmachen. Auch die kommerzielle Werbung in den Printmedien hat abgenommen. Wie viel davon ins Internet abgewandert ist kann man aber nicht genau feststellen. „Google macht zum Beispiel keine Angaben über seine Werbeumsätze“, so Schneider, der an Print glaubt. „Grundsätzlich geht die Werbung da hin, wo die Aufmerksamkeit ist. Das ist ein Gesetz wie das Amen in der Kirche“. Für Schneider punktet Print durch die hohe Akzeptanz der Werbung bei der Leserschaft. „Man kann digital mittlerweile sehr viel machen. Search, response, verlinken, Videos, aber eben nicht alles.“ Während er bei den Verlagen immer noch ein „Silodenken“ feststellt, welches die kreative Umsetzung konvergenter Kampagnen erschwert, beobachtet er bei vielen Werbekunden Zahlengetriebenheit. „Man will für die grossen Summen, die man einsetzt eine gewisse Wirkungsgarantie. Ein Grossteil der kommerziellen Werbung ist auf Preisaktionen fokussiert, um den Abverkauf kurzfristig zu steigern.“ Für derartige Low Interest-Produkte gehe das nun mal einfacher mit digitalen und audiovisuellen Medien, welche quasi aufgedrängt werden. Für qualitativ hochwertige Kommunikation hingegen sieht er Print viel besser geeignet. „Mit Print kann man Marken schaffen“.
Philipp Löpfe wusste um diese Vorzüge der Zeitung, als der damalige Chefredaktor des Tages-Anzeigers im Dezember 2000 vor die Tamedia-Kaderleute trat. Er versicherte ihnen, dass das Internet dem „Tagi“ nichts anhaben konnte. Aus seiner Sicht hatte die Zeitung eine klare Identität als Gemeinschaftsprodukt. Damit sei sie ideal gegen den Individualisierungstrend im Internets gerüstet. In der Rede, die auch im Blatt abgedruckt wurde, sagte er: „Die professionelle Gatekeeper-Funktion der Redaktion kann nicht individualisiert werden, sie ist per definitionem auf die Masse, auf die Gemeinschaft ausgerichtet.“ Daher stärke der Online-Auftritt des Tages-Anzeigers die gedruckte Zeitung, indem dieser Individualisierung biete. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Marke als Gemeinschaftsprodukt nicht verwässert würde. Löpfe war überzeugt: „Nur wer ein Premium-Produkt anbietet, kann auch einen Premium-Preis dafür verlangen.“ Löpfe, heute als Wirtschaftsjournalist bei watson tätig, hat seine Ansichten nicht geändert: Ein journalistisches Medium zeichnet sich für ihn zuerst als emotionales Gemeinschaftsprodukt einer Redaktion mit klarer Identität aus. „Besonders die Newsroom-Strategie ist ein gigantischer Irrweg“. Man könne nicht einfach Inhalte top-down in Auftrag geben, in unterschiedliche Kanäle verteilen oder von Kunden aus dem In- und Ausland einkaufen. Der Versuch, damit den Journalismus zu industrialisieren, ergebe einen austauschbaren Brei ohne Identität. „Ein Verlag ist keine Autofabrik, weil eine diskutierende Redaktion mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile.“ Mit einer klassischen Redaktionsstruktur flösse einerseits mehr in jede Geschichte, es passierten weniger Fehler. Andererseits würde man aber auch andere Journalisten anziehen. Für Löpfe geht das auch bei einem Online-Medium wie watson, wo man täglich an der 8.30 Uhr-Sitzung über die eigene Identität diskutiere. Im Vergleich zu Newsnet-Newsroom-Zeiten fühle er sich stärker verantwortlich fürs Produkt. Sein Fazit: „Nur eine diskutierende Redaktion könnte eine neue Zeitung denken. Viele Medienmarken sind aber gerade daran, das Kind mit dem Bade auszuschütten.“
Andreas Häuptli, Geschäftsführer des Verbands Schweizer Medien ist ähnlich kritisch, obschon er die Newsroom-Strategie nur als risikoreich betrachtet, sollte sie in der Umsetzung zu einer Verluderung in den Abläufen im Zuge des digitalen Temporauschs führen. Vielmehr stellt er fest, dass in vielen Verlagshäusern im „Experimentiermodus“ vergessen geht, was man an der gedruckten Zeitung hat. Er gibt zu, dass man in den vergangenen Jahren zu wenig gemacht hat, um Werbekunden die vergleichsweise hohe Wirkung und Kontaktqualität von Printwerbung zu kommunizieren. Er bezeichnet durchlässige Paywalls als „Zwitterlösungen“, weil damit immer noch online Inhalte verschenkt werden, die in Print kosten. Und er sagt: „Indem man bei Print die Preise erhöht, gleichzeitig aber online Inhalte verschenkt, geht man zwei Risiken ein: Erstens, dass man die Loyalität der Stammleser gefährdet. Und zweitens, dass man die Hürden für potenzielle Neuabonnenten sehr hoch ansetzt, gerade bei jungen Lesern.“
Ob und wie schnell Print stirbt, scheint vorläufig also noch immer zu grossen Teilen in den Händen vieler Verlage. Zwar befinden sich viele Printmarken in erheblichen Identitätskrisen, weil sie sich vom Internet in einen neuartigen Spagat zwischen zwei Geschäftsmodellen mit digitalem (welch traumhafte Reichweite!) und gedrucktem Journalismus (welch treue Leserschaft!) locken lassen. Doch für Printtitel, die im von Glaubwürdigkeit geprägten Mediengeschäft der digitalen Verlockung vorsichtig begegnen, zahlt sich die Beharrlichkeit noch immer aus. Wer sich nicht in einen schmerzhaften Spagat begibt, muss auch nicht das fast Unmögliche leisten: Einen solchen glaubhaft als aufrechten Stand zu verkaufen.