Mit Jenny gegen die Angst

Jenny Kuhn: Und wie isch gange?

Röbi Grimm: Nöd guet!

Eine „Doku-Fiktion“ hat das Schweizer Fernsehen gestern zum 100-jährigen Jubiläum des Landesgeneralstreiks ausgestrahlt. Doch so aufwändig und ambitioniert dieser vorgebliche Zwitter auch umgesetzt scheint, die Fiktion beisst die Doku in den Schwanz. Und dies obschon der Film ganz viel zu bieten hätte: Zahlreiche Historikerinnen und Historiker aus unterschiedlichen Landesteilen erzählen die Geschichte des Konfliktes zwischen Schweizer Armee und Sozialdemokratie im Herbst 1918. Sie argumentieren unterstützt durch Bilder und Zeitdokumente, lassen manchmal durchblicken, dass sie sich nur auf Quellen stützen, ja gar nur vermuten können bei ihren Einschätzungen. Ihre Vielfalt und Transparenz sorgen für eine gewisse Glaubwürdigkeit und damit Information.

Diese Glaubwürdigkeit der Doku wird aber von einer Fiktion untergraben. Diese nachgespielte, fiktionale Erzählung, die man als Ergänzung lesen muss, dramatisiert den Konflikt durch eine Gegenüberstellung von Robert Grimm, Anführer der Arbeiterbewegung und Oberstdivisionär Emil Sonderegger. “Die in diesem Film dargestellten Personen haben tatsächlich existiert”, heisst es im Vorspann. “Die Dialoge und Begegnungen stützen sich auf Dokumente, teilweise sind sie nachempfunden.” Doch was wurde teilweise nachempfunden? Alles? Wenig? Und wann hört eine Person auf zu existieren? Wir erfahren es nicht, können nur hinschauen.

Und da sehen wir “Röbi” Grimm als attraktiven Mann mit Herz und Überzeugungen, der seine zukünftige Frau Jenny im Zug mutig anspricht. Während wir Grimm am Esstisch sehen, wo er vor lauter Sorgen keine Suppe mehr essen mag, erscheint Sonderegger – von dessen erstem Treffen mit seiner Partnerin wir nichts erfahren – im Büro am Telefon kaltherzig Befehle erteilen. Während Grimm seine Partnerin hin und wieder um ihre Meinung bittet, meint Sonderegger zu seiner “kleinen, mutigen Nina” bloss: “Mut ist in Zeiten wie diesen nicht genug.” Nina ist sofort überzeugt und greift zum Revolver.

Dass die beiden Frauen kennenlernten, mit ihnen zusammenlebten und Sonderegger den Konflikt suchte, während Grimm sich friedlich für die Interessen der “einfachen Leute” einsetzte, mag den überlieferten Fakten und den dazwischengeschobenen Einschätzungen der HistorikerInnen entsprechen. Doch das grösste Problem des Films ist, dass ihm die Fakten nicht genügen. Mit – so müssen wir annehmen – erfundenen, “nachempfundenen” Dialogen wird Sonderegger als lächerlicher, ängstlicher Scharfmacher dargestellt, der enttäuscht ist, als “die gottverreckte huere Feigling” den Streik abbrechen und “heil dir, Helvetia” in die Kamera haucht. Und mit ihrer primären Verwendung als Charakterisierungsvehikel für die Männer drängt sich die Frage auf: Was sollen Jenny und Nina in diesem Film?

Mit diesen und vielen anderen Überzeichnungen (ja, Grimm wird vor dem Bundeshaus von einem Soldaten beschimpft, ja, die Welschen haben wirklich Vorurteile gegenüber den Zürchern! Haben Jenny und Röbi die Rede am Schluss tatsächlich im Fernsehen verfolgt?) – riskiert der Film die Glaubwürdigkeit, die ihm die HistorikerInnen und Zeitdokumente verleihen. Die Fiktion widerspricht der Doku, ja zieht sie gar in Zweifel, weil sie den Anschein erweckt, als würde sie nicht reichen.

Wozu also die Verwirrung? Wir können wiederum nur hinschauen – und etwas spekulieren. Weil sie so deutlich wiederholen will, was die Fakten zeigen, so eindeutig einen Bedeutungsüberschuss produziert, erscheint sie zuerst als Ausdruck einer Angst, vom Publikum nicht verstanden zu werden. Doch, doch, schaut bloss ins Wohnzimmer dieser warmen und kalten Menschen, hört sie sprechen, seid beruhigt, genau so wars! So erscheint SRF – man wüsste kaum warum – fast so ängstlich angespannt wie im Film Sonderegger, der den eigenen Bedeutungsverlust fürchtet oder Röbi Grimm, der keine Suppe mehr mag. Jenny Kuhn hätte wohl ein Rezept dagegen. Einfach sagen, was Sache ist: “Ich wett wieder mal mit dir goge tanze!”

Bild: Screenshot © SRF

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