Bild © Thomas Schmidt
Interview mit Thomas R. Schmidt. Der Österreicher ist Postdoctoral Fellow am Agora Journalism Center der University of Oregon in Portland (USA). Zuvor war er als Journalist für diverse österreichische Medien (u.a. ORF, Kleine Zeitung) tätig. Er lebt in Boise, Idaho.
Das Interview erschien in gekürzter Form im Schweizer Journalist 6/7, 2018.
Pascal Sigg: Erzähljournalismus erfährt gerade einen Boom. Woher kommt er?
Thomas Schmidt: Er geht sowohl in den USA wie auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals begannen Tageszeitungen emotionale Geschichten über soziale Ungleichheit und Verbrechen insbesondere in Grossstädten zu erzählen. In den 1920ern ist diese Welle aber wieder verebbt.
Weshalb?
In den USA fand damals eine Professionalisierung des Journalismus mit stärkerer Abgrenzung von der Literatur statt. Dabei setzte sich eine nüchterne Erzählweise durch, die ganz gezielt auf Objektivität und Distanziertheit fokussiert war. Frühere Erzählformen gerieten in den Hintergrund. Einen neuen Aufschwung bekam das journalistische Erzählen dann in den Sechzigern und Siebzigern.
Mit dem New Journalism?
Ja, aber nicht nur in den Magazinen. Gerade auch JournalistInnen in Tageszeitungen haben aktiv daran gearbeitet, das Erzählen im Zeitungsalltag zu etablieren.
Wie ist das abgelaufen?
Die Erzählfunken aus den Magazinen wurden von Chefs mit Magazinerfahrung wie Ben Bradlee bei der Washington Post in die Zeitungen getragen. Er baute den Stil-Bund in eine Art Magazin innerhalb der Zeitung um. Das hatte Signalwirkung. In den 80ern begannen sich die Journalisten zu organisieren und in Workshops und Konferenzen auszutauschen.
Mit welcher Begründung wurde dafür Geld eingesetzt?
Das Argument war immer: Der alte Journalismus ist nicht mehr zeitgemäss, wir müssen etwas Neues machen. Neu hiess damals: bessere Geschichten erzählen. Einerseits wurde auf den Stärken des Journalismus wie guter Recherche und faktenbasierter Arbeit aufgebaut, diese wollte man andererseits aber besser verkaufen. Also nicht einfach nur ein Protokoll oder eine Chronik abladen, sondern aktiv erzählen.
Stiessen diese Initiativen nicht auf Widerstände?
Doch, klar. Aber die Journalisten haben gesehen, dass die Geschichten einfach auch ziehen. Nicht überall und nicht die ganze Zeit, aber doch in einem bestimmten Ausmass und Kontext möchten die Leute diese Geschichten lesen. Im Vergleich zur Erzählwelle im 19. Jahrhundert, wo Zeitungen neuere, freiere Experimentierfelder mit schwächerer Abgrenzung zur Literatur waren, war dies erstmals ein bewusster aktiver Sinneswandel.
Was war dabei entscheidend?
Dass zunächst immer noch genug Geld vorhanden war. Zeitungen konnten Journalisten längere Zeit an einer Geschichte arbeiten lassen, weil das einfach Geschäftsstrategie war. So entstand dann zusehends eine immer grössere Sinnesgemeinschaft der erzählerischen JournalistInnen mit einer kritischen Masse, die auch Plattformen fand. So wurden Institutionen und Strukturen wie beispielsweise das Poynter Institute in Florida geschaffen, die bis heute Bestand haben.
Wieso hält sich diese Erzählwelle bis heute?
Der Erzähljournalismus ist in Wellen gekommen, die alle auf gesellschaftlichen Wandel reagierten. Im 19. Jahrhundert reagierten Journalisten auf die Industrialisierung der Lebenswelt, in den 1960ern auf politische und kulturelle Umwälzungen. Gleichzeitig beförderten Journalisten auch den Wandel, indem sie andere Geschichten zu neuen Themen erzählten. Heute sehen wir eher ein Überborden der Information und damit verbunden das Bedürfnis sowohl des Journalismus wie auch von Teilen des Publikums, intimere Kommunikationsbeziehungen z.B. mit Podcasts zu schaffen.