Die grossen US-Medien versagen beim Faschismus

Für Infosperber, 1. Februar 2024

Der US-Historiker Rick Perlstein übt eindringliche Kritik an der politischen Berichterstattung der US-Massenmedien.

So beunruhigt blickt der US-Historiker und Journalist Rick Perlstein derzeit auf die akute politische Lage in seinem Land: Die USA stehen im Jahr der Präsidentschaftswahlen an der Grenze eines erstaunlichen Wendepunkts. Nämlich der realen Möglichkeit, dass die Demokratie verschwindet.

Perlstein weiss, wovon er spricht. Er ist einer der profiliertesten Historiker der amerikanischen Rechten und hat fünf Bücher über deren Entwicklung in den letzten 60 Jahren publiziert. Zuletzt Reaganland: America’s Right Turn, 1976–1980.

Perlstein
Derzeit ein gefragter Experte: Der US-Historiker und Buchautor Rick Perlstein. © Democracy Now

In einer Kolumne für das US-Magazin The American Prospect befasst er sich derzeit mit der Frage, was zu tun ist, um das drohende Abgleiten der US-Demokratie in den Faschismus zu verhindern. Eine seiner Hauptthesen: Die US-Medien sind nicht bereit für diesen Moment.

«Vollkommen ungeeignete Werkzeuge»

«Generationen der vorherrschenden, Konsens-benebelten journalistischen Elite haben bestimmte Werkzeuge, Metaphern, Gewohnheiten und Technologien geschaffen, die wir als politischen Journalismus verstehen. Aber diese Tools sind vollkommen ungeeignet, um zu verstehen, was Politik jetzt gerade ist.»

Für Perlstein versagen insbesondere die grossen, nationalen, eigentlich als seriös geltenden Marken: die New York Times, die Washington Post, die grossen TV-Sender wie CBS. In seiner kritischen Kolumne lässt Perlstein andere Historiker oder Journalisten zu Wort kommen.

Folgende fünf Kritikpunkte führt Perlstein an:

Verblendete Metaphorik und fehlende Selbstkritik

Für zwei Artikel sprach Perlstein mit dem Journalisten Jeff Sharlet. Sharlet ist einer der besten Kenner der christlichen Rechten in den USA. Letztes Jahr publizierte er das Reportage-Buch The Undertow: Scenes from a Slow Civil War, für welches er durchs Land gereist war und mit vielen Amerikanerinnen und Amerikanern gesprochen hatte, die sich auf einen Bürgerkrieg freuten oder ihn als traurig aber unausweichlich bezeichneten.

Für Sharlet – dabei dient ihm eine öffentliche Diskussion mit einem Reporter der New York Times als Beispiel – sind viele Journalisten der Grossen unfähig zur Selbstkritik. Und zwar am offensichtlichsten, indem sie behaupten, nicht zu etikettieren oder schematisieren, sondern nur zu «schreiben, was ist».

Die New York Times, so der Journalist, würde Trump eben nicht «Faschist» nennen, weil man generell nicht gerne diffamierende Etiketten benutze. Perlstein: «Indem sie den Faschismus nicht beim Namen nennen, während andere dies richtigerweise tun, bezeichnet die Times den Faschismus als Nicht-Faschismus. Alle Journalisten kleiden die Realität in Metaphern und hängen ihre Narrative an existierende Interpretationsmuster. Wer schlechten institutionellen Regeln folgt, weigert sich, dies anzuerkennen. Diese Journalisten können ihre Labels, Metaphern und Frames nicht bewusst ändern, weil sie sich aus Stolz weigern, über sie nachzudenken.»

Was ist Faschismus?

Rick Perlstein und Jeff Sharlet orientieren sich am US-Historiker Robert O. Paxton, der ausgiebig zum Faschismus geforscht und publiziert hat. In seinem Buch Anatomie des Faschismus (2004) definierte er den Begriff «als eine Form politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt und mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und der äusseren Expansion verfolgt.»

Im Anschluss an den Sturm aufs Capitol schrieb Paxton 2021 im Magazin Newsweek, dass er Trump lange nicht als Faschisten verstanden hatte. Doch dies habe sich nach den gewaltsamen Protesten gegen den Wahlsieg Joe Bidens geändert. «Trumps offener Aufruf zur Gewalt, um die Wahl rückgängig zu machen überfuhr eine rote Linie. Das Label scheint jetzt nicht nur akzeptabel, sondern gar notwendig.»

Untaugliche journalistische Traditionen

Im Umgang mit Faschisten sind traditionelle Sendeformate untauglich. Sharlet nennt das Beispiel des populären Interviewformats «60 Minutes» auf CBS. Das Konzept: Die erfahrene Interviewerin Leslie Stahl prüft eine politische Newcomerin, die jetzt Verantwortung trägt, auf Herz und Nieren. Im Fall der republikanischen Abgeordneten Marjorie Taylor Greene ging der Schuss allerdings nach hinten los, weil diese eine falsche Behauptung nach der anderen von sich gab. So bezeichnete sie die Demokraten pauschal als Pädophile. Die Reaktion der Interviewerin: «Wow, okay.»

«Marjorie Taylor Greene versucht eben gerade nicht, in den Kosmos einzutreten, über den Leslie Stahl berichtet», so Sharlet. Sie sei in einer faschistischen Umgebung zuhause. «Der Faschismus ist eine Traumpolitik. Eine Mythologie. Man kann ihn nicht factchecken. Man kann nicht die Stirn runzeln und dann geht er weg.» In Greenes Kosmos sind es gemäss Sharlet und Perlstein eben genau Menschen wie die Journalistin Stahl, welche Trump daran hindern, das amerikanische Volk in die Zeit vor dem Sündenfall zurückzubringen.

Falscher Marktglaube

Auch unter vielen US-Journalisten – wie dem erwähnten Times-Journalisten – gilt «der Markt» als Massstab für Erfolg. Auf diesem Marktplatz der Ideen ist Popularität der Beweis für Exzellenz und Überzeugungskraft. Übertragen auf die Arbeit von Medienmarken meint diese Logik: Je mehr Leser, desto besser die journalistische Arbeit. In der demokratischen Politik meint sie: je mehr Stimmen, desto breiter abgestützt der Kandidat. Dass diese Interpretation auf einen Kandidaten wie Trump, der mit allen Mitteln nach der Macht greift, nicht anzuwenden ist, liegt für Perlstein auf der Hand: «Dies ist ein ziemliches Problem, wenn man über eine Bewegung schreibt, deren Eintrittsticket Realitätsverweigerung ist und deren Vorreiter jenen Gewalt androhen, welche es wagen, ihren Fantasien zu trotzen und nach der Realität zu handeln.»

Falsche Objektivität

Sharlet beschreibt, wie er mittels transparenter Subjektivität viele, auch schwer bewaffnete Faschistinnen und Faschisten dazu brachte, gleichwohl mit ihm zu sprechen. Die distanzierte Objektivität vieler Massenmedien sei für ihn dagegen «ein ideologisches Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges, als die US-Eliten die Vorstellung eines Platzes im Zentrum brauchten.»

Faschismus war woanders

Für Perlstein und Sharlet ist es kein Zufall, dass die New York Times sich weiterhin weigert, Trump als Faschisten zu bezeichnen. Die Vorstellung, dass Faschismus in den USA nicht existiere, sei weit verbreitet. Sharlet: «Viele Leute machen den Fehler und sagen: Das sieht aber nicht aus wie europäischer Faschismus anno 1936. Nun ja, es ist auch amerikanischer Faschismus im 2024.» Für eine Analyse des US-Faschismus spricht Perlstein mit John Ganz, welcher den Newsletter Unpopular Front über genau dieses Thema herausgibt. John Ganz detailliert, wie der Faschismus ganz besonders da, wo er an die Macht kam, von den etablierten politischen Playern unterschätzt wurde.

Gemäss dem Historiker Dylan Riley funktionierte europäischer Faschismus in Gesellschaften mit schwacher politischer Obschicht aber weit entwickelter Zivilgesellschaft. Diese bestand aus vielen Gruppen, welche unerfüllbare Anforderungen ans unzulängliche politische System stellten.

John Ganz: «Genau dies haben wir in den USA: Eine sehr schwache politische Elite, aber darunter eine Zivilgesellschaft, die eine Art Ausdruck sucht. Und der Ausdruck, den sie wählt, ist pathologisch. Sie verlangt nach einem Diktator. Weil das Zweiparteiensystem unfähig ist, ihr die Antwort zu geben, die sie verlangt.»

Für Perlstein ist klar: Politischer Journalismus müsste sich nicht zuerst darum kümmern, wie viele Stimmen Trump macht. Denn für seine Unterstützer sei ohnehin klar: Er ist der einzig richtige, legitime Anführer der meisten und wahren Amerikaner. «Die Frage ist vielmehr: Wie viele von ihnen sind bereit für diesen Glauben zur Waffe zu greifen, sollten die Leute deren Job es ist, die Stimmen zu zählen, zum falschen Schluss gelangen.»

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