Die Erzählwelle

Erschienen in: Schweizer Journalist 6/7 2018.

In den grossen Medienunternehmen der USA hat sich der Erzähljournalismus etabliert. Eine Welle der journalistischen Narration hat nun via Deutschland auch die Schweiz erfasst. Ist sie bloss kreativer Impuls oder Beginn eines Umbruchs?

Nur die grossen Banner wärmen die grauen Wände und die Luft ist etwas zu kühl in der Konferenzhalle der Boston University mitten in der Stadt, gleich am Charles River. Aus den ganzen USA sind die JournalistInnen angereist. Eine Gruppe aus Norwegen ist hier, Schweden, Engländer, Holländerinnen, Südamerikaner, Asiatinnen, Afrika sind vertreten. Es ist Ende März 2018, im Land dessen Präsident den Journalismus zum Staatsfeind erklärt hat und doch ist die Stimmung optimistisch. Die Leute in diesem Saal kennen die banale Antwort auf viele Probleme ihrer Branche zu kennen: Die Kraft der Erzählung. Auf dem Hauptpanel der Konferenz sieht Ann Marie Lipinski, Pulitzer-Preisträgerin und Kuratorin der Nieman Foundation, welche an der Harvard Universität den Journalismus vorantreiben will, das Erzählen als neues, aufregendes Paradigma der Zunft: „Es ist freier als die alten, formelhaften Templates, in welchen die Struktur der Artikel fast Abschnitt für Abschnitt vorgegeben war.“ Lydia Polgreen, Chefredakteurin der HuffPost pflichtete ihr bei. Viele investigative Recherchen würden nicht in die klassischen Printartikelformeln passen. Die Hauptthese hier an der „Power of Narrative“-Konferenz 2018: In einer Zeit der Aufmerksamkeitsknappheit und der für viele Medienmarken zunehmenden Wichtigkeit des Lesermarkts bieten faktenbasierte, recherchierte Erzählungen mit Plot, Charakteren, Dialogen und Szenen – egal ob in Text, Bild, oder Ton – einen effektiven Rahmen für journalistische Inhalte. Boston Globe-Chefredaktor Brian McGrory meinte auf dem Podium: „Das Erzählen sollte alles infiltrieren was wir tun.“

Diese Worte hätten auch anderswo fallen können. Erzählen – oder Storytelling – tun heute alle, die überzeugen und verbinden wollen: Die Spin-Doktoren aus den PR-Agenturen, die Grossverteiler, die Politikerinnen, Behörden, die Nachbarinnen, die Taxifahrer, die Hobbybastler auf den Crowdfundingplattformen. Und auch im Journalismus kann Storytelling verschiedene Dinge bedeuten: Das Storytelling-Team der NZZ beispielsweise erzählt nicht zuerst von Menschen, sondern visualisiert Daten. Und hierzulande wird Erzähljournalismus nicht selten auch mit Nabelschauen oder Fiktion assoziiert. In den USA steht die Sache etwas anders. Gewiss könnten Erzählungen auch Feinde der Wahrheit sein, räumte Lydia Polgreen ein: „Narrative die nicht auf einem geteilten Glauben an Fakten basieren, sind gefährlich.“ Trump sei ein meisterhafter Geschichtenerzähler, der sich trotz aller Lügen als überzeugend herausgestellt habe. Gerade deshalb kritisieren sie an der Konferenz in Boston Erzählerscheinungen wie den anekdotischen Lead und sind sich einig: journalistisches Erzählen benötigt nicht weniger, sondern noch mehr Recherchearbeit, noch härtere Fakten.

Näher zur Leserschaft

Dass die Verbindung von Recherche und Erzählung im US-Journalismus eher eine tiefergehende Entwicklung als bloss ein weiterer Trend ist, indizieren aber nicht nur diese Äusserungen und hunderte von JournalistInnen aus unzähligen Ecken und Medien der Welt im selben kühlen Raum. „Die aktuelle Welle geht bis in die 1960er-Jahre zurück“, sagt Thomas Schmidt, der an der University of Oregon unter anderem die Geschichte des US-Erzähljournalismus erforscht (siehe Interview). Ausgehend vom innovativen New Journalism in den Magazinen, welcher seinerseits insbesondere auf den Aufstieg des Fernsehens zum Massenmedium reagierte, fand das Erzählen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts den Weg in die US-Tageszeitungen. Mark Kramer, der Gründer der Bostoner Konferenz, notierte im Herbst 2000 im Magazin der Nieman Foundation, dass die amerikanische Erzähljournalismusbewegung erstarkt war. Die Gründe verortete er in Geschäftsproblemen der Zeitungen: sinkende Auflagen und Lesezeit, alternde Leserschaft. Im Erzähljournalismus, mit menschlicheren Geschichten erzählt von einer persönlicheren Stimme sahen viele die Chance zu stärkerer, emotionalerer Leserbindung. Gemäss Journalismus-Professor Miles Maguire von der University of Wisconsin lässt sich eine ähnliche Entwicklung am Pulitzerpreis nachlesen. Bereits 1979 erweiterte die Pulitzer-Jury den Preis um die Feature-Kategorie, welche Werke von „hoher literarischer Qualität und Originalität“ auszeichnen sollte. Was damals noch einer neuen Kategorie bedurfte, hat fast 40 Jahre später auch Eingang in die anderen Kategorien gefunden. Gemäss Maguire, der die Gewinner des Preises analysiert hat, ist der mit dem Pulitzer ausgezeichnete Journalismus ganz allgemein literarischer geworden. Besonders szenenhafte Rekonstruktionen und illustrative Details sind heute auch in den siegreichen Artikeln anderer Kategorien zu finden.

In Boston Ende März tauschen die Konferenzteilnehmer ihre Erfolgsrezepte in Workshops und Vorträgen. Wie identifizieren wir relevante Geschichten? Wie recherchieren wir historische Quellen? Wie führen wir ethisch heikle Interviews? Und vor allem immer wieder: Wie erzählen wir das recherchierte Material? ESPN-Journalist Don Van Natta sagte dazu in seiner eröffnenden Keynote: „Wie wenn ihr die Geschichte einem Freund in einer Bar erzählen würdet.“ Dazu braucht es zuerst eine klare Vorstellung dieses Freundes als Leser. Deshalb kommen sie in Boston immer wieder auf die Rolle der Editors zu sprechen. Diese Redakteursrolle, eine Mischung aus Coach, Lektor und Blattmacher, ist im US-Journalismus deutlich häufiger anzutreffen – und wird gerade für erzählenden Journalismus, der aufgrund seiner offeneren Struktur zwar mehr Freiheiten, aber auch weniger Orientierung als traditionelle Formen bietet, als entscheidend betrachtet. Globe-Chefredaktor McGrory auf dem Panel: „Beim Editor trifft man den Leser.“

Lange Texte, minutiöse Rekonstruktionen

Der Schweizer Journalismus führt Diskussionen wie in Boston seit kurzer Zeit wieder intensiver, allerdings bloss punktuell und bestimmt nicht an Universitäten. Das journalistische Erzählen ist hierzulande eine Randerscheinung; verankert nicht in Institutionen, sondern in Individuen und Nischenpublikationen, die hin und wieder Duftmarken setzen, Zwei Monate nach der Bostoner Konferenz treffe ich in einem kleinen Einzelzimmer im Hinterhof des Hotels Rothaus an der Zürcher Langstrasse einen der wenigen Editors im Schweizer Journalismus. Das hier ist sein Büro: Ein Laptop auf dem kleinen Pult, ein schmales Bett, ein Bad mit Dusche, das demnächst zugesperrt wird. In dieser Enge ist Ariel Hauptmeier für die Öffnung von Geschichten zuständig. Textchef ist sein offizieller Titel, doch der Deutsche, der 2008 selber an der Bostoner Konferenz teilnahm, meint: „Ich verstehe mich eher als Coach oder Dramaturg.“ Zusammen mit JournalistInnen hat er beim Online-Magazin Republik Leserinnen und Leser dazu gebracht, stundenlange Geschichten über die USA-Reise zweier Reporterinnen oder das Bündner Baukartell zu lesen. Die Republik-Initianten Christof Moser und Constantin Seibt wollten „grosse Recherchen und grosse Geschichten“ oder „high class longforms“ liefern und nach wenigen Monaten ist klar: Die Republik probiert vom Podcast übers Video-Interview vieles aus, doch beim Erzählen schlägt sie besonders grosse Pflöcke ein.

„Die Leute verschlingen packend erzählte Geschichten, auch wenn sie noch so lang sind“, sagt Hauptmeier. Bereits in seiner Magisterarbeit beschäftigte er sich ausführlich mit Erzähltheorie. Danach besuchte er die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg, ehe er als freier Reporter arbeitete und später eben als das, was die Amerikaner Editor nennen; erst bei „Geo“ dann beim Berliner Recherchenetzwerk Correctiv. Gerade dort stellten sich ihm täglich die Fragen: Wie erzählt man aufwändige, investigative Recherchen? Wie vermittelt man abstrakte, komplexe Geschichten, mit zig Schauplätzen und Personen – wie diejenige zum Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine? „Eigentlich ist es gar nicht so schwer, eine gute Erzählung zu bauen. Aber das hat sich leider immer noch nicht herumgesprochen. Etwa die Grundregel: Dass Geschichten in Szenen erzählt werden“, so Hauptmeier. Oder: Dass die Wahrheit im sprechenden, klug beobachteten Detail liegt. Die preisgekrönte MH17-Geschichte begann mit einem 50-seitige Rechercheprotokoll, an dem zwei Kollegen drei Monate gearbeitet hatten – und dem sie dann zu dritt Farbe, Dynamik, einen Spannungsbogen einhauchten. Ähnlich war die Arbeit bei der Baukartell-Geschichte. Entscheidend für den Erfolg sei das Zusammenspiel von drei ganz unterschiedlichen Talenten gewesen, von einem Rechercheur, einer Reporterin und Hauptmeier als Dramaturgen. Roter Faden der „Kartell“-Story war die minutiöse Rekonstruktion jenes Tages, an dem der Protagonist von einem Sonderkommando verhaftet und in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Hauptmeier: „Rekonstruktionen sind ein starkes Erzählmittel. Ich frage mich, warum es im Journalismus so selten eingesetzt wird.“

Spass, Wertschätzung und Empathie

Ähnliche Fragen stellt sich auch Magazin-Redaktorin Paula Scheidt, als ich sie am selben Tag in einem Café an der Sihl unweit ihres Büros bei der Tamedia treffe. „Ich komme aus der gleichen Zelle wie Ariel“, sagt sie schmunzelnd. Die Deutsche hat zwar in Zürich studiert, doch journalistisch hat sie neben der Berliner Journalistenschule das 2007 von Hauptmeier mitgegründete und vom US-Erzähljournalismus beeinflusste Reporter-Forum stark geprägt. Sie ist Mitinitiantin des 2015 gegründeten Schweizer Reporter-Forums „für alle, die sich fürs Handwerk des Erzählens interessieren“ (Website) und treibende Kraft hinter dem eben erstmals vergebenen Schweizer Reporterpreis, der gezielt gutes Erzählen fördert. Mit dem jeweils in wenigen Tagen ausgebuchten Forum habe sie in Zeiten der Zynismus und Pessimismus hervorrufenden Sparrunden einen Ort für Inspiration, Begeisterung und Spass am Journalismus schaffen wollen, sagt Scheidt. Den Preis hingegen sieht sie als Initiative zur Wertschätzung des Erzählens und als Chance für neue Stimmen, in einer hierarchisch strukturierten Branche voller Platzhirsche wahrgenommen zu werden. „Zu häufig wird Narration hierzulande als Befindlichkeitsjournalismus abgetan.“

Für Scheidt aber scheint Erzähljournalismus vielmehr für offene Experimentation als ein bestimmtes, auf die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular reduziertes, Programm zu stehen. „Ich habe mich schreiberisch immer nur für das interessiert, was ich auch selbst am liebsten lese: hintergründige, emotional-intelligente Texte.“ Nach Studium und Journalismusschule war sie ein Jahr lang als freie Journalistin tätig und hat in verschiedenen Funktionen bei der NZZ gearbeitet, ehe ihr eine Stelle als Reporterin beim Magazin angeboten wurde. Heute ist sie dort Redaktorin. Die Arbeit unterscheidet sich zwar von derjenigen als Reporterin, weil sie nicht mehr nur schreibt, sondern auch das Heft konzipiert und Texte freier AutorInnen betreut. Dabei greift sie auf eigene Erfahrungen als Freie zurück. Eine gute Betreuung und ein zuverlässiger Ansprechpartner auf der Redaktion seien für Freie besonders wichtig. “Das braucht viel Empathie, schliesslich handelt es sich bei Magazin-Reportagen oft um hochgradig subjektive Texte und Kritik kann schnell verletzend sein.“ Gerade bei neuen AutorInnen sucht sie aber nach einem eigenen Ton, einer gewissen Dringlichkeit: „Ein Text spricht mich an, wenn ich merke, dass jemand ein Risiko eingegangen ist.“ Deshalb unterscheidet sich ihre Arbeit von Geschichte zu Geschichte: Manchmal beginnt sie mit einer Rückmeldung auf einen eingesandten Text. Oft bespricht sie aber auch von Beginn weg die Rechercheplanung mit ihren JournalistInnen.

Verirrungen und Muster

„Man muss sehr sorgfältig planen“, sagt Hauptmeier, der ebenfalls in je nach Geschichte unterschiedlichen Produktionsstadien zum Zug kommt. „Wenn es mustergültig läuft, stellen wir uns sehr früh auch die Frage, in welcher Form wir eine Geschichte erzählen. Ob es überhaupt ein Text sein muss – und wenn ja, aus welcher Perspektive wir ihn erzählen.“ Doch diesem Anspruch gerecht zu werden gelingt im Alltag nicht immer. „Die erste Fassung unserer Malta-Geschichte zur Ermordung von Daphne Caruana Galizia mussten komplett wir in den Mülleimer werfen – und dann nochmal von vorn beginnen.“ Und bei der zweiten Fassung gab es dann die Schwierigkeit, dass die Recherche mit einer grossen Lücke leben musste – bis heute ist unklar, wer die Drahtzieher hinter dem Mord sind. Und so etwas passiere ja oft. „Man sieht fast nie von Anfang an klar. Oft ist es ein Vorantasten und erst mal mehrmaligem Verirren findet man den Weg.“

Bei all der Ungewissheit scheint es aber doch auch Muster zu geben. Paula Scheidt, die selbst von der emotionalen Sozialreportage über die Auslandrecherche und die politische Inlandgeschichte zum persönlichen Erfahrungsbericht viele verschiedene Formate geschrieben hat, sieht zwei Pole: Auf der einen Seite, die aufwändige Recherche eines komplexen Stoffes, spannend erzählt und verständlich erklärt. Auf der anderen Seite das persönliche Essay, das extrem subjektiv das eigene Leben erforscht. „Einerseits fühlt man sich angesichts der steigenden Informationsflut schnell ohnmächtig, da müssen wir bei komplizierten, aber wichtigen Themen Orientierung bieten. Andererseits hat uns beim Magazin schon immer ausgezeichnet, dass wir klug und mit Witz darüber reflektieren, wie wir leben.“ Für sie werden persönliche Geschichten in einer Zeit von Populismus und Netzhass auch deshalb wichtiger, weil sie unbekannte Lebensrealitäten begreifbar machen und so das Verständnis für andere Mitglieder der Gesellschaft fördern.

Vor diesem Hintergrund ist die Erzähljournalismus-Welle nicht bloss ein Modetrend, sondern transparente journalistische Kommunikation. Sie gesteht ein, dass jeder Artikel ein notwendigerweise unvollendetes Produkt eines Menschen ist, das gelichwohl gelesen werden will. Zumindest für Mitchell Zuckoff, Professor of Narrative Studies an der Boston University ist dies mehr als bloss eine andere Präsentationsform für Fakten. In seinem Konferenz-Schlusswort sagte er: „Wir können der Vernunft widerstehen und wir können den Fakten widerstehen. Der Kraft der Erzählung aber können wir nicht widerstehen, weil sie den Verstand öffnet.“ Wie stark diese Kraft diesmal auch die Zentren des Schweizer Journalismus erfasst, wird sich erst zeigen. Eben erst hat sie an den Rändern ein weiteres Mal eine Welle angestossen.

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